Kapitel vier

Verdammt«, sagte Agnes. »Oh nein!«, rief Calliope.

Panik erfasste Sabine. In Gedanken sah sie schon alle möglichen Szenarios, bei denen Max auf ihrem Fußboden verblutete. Aber dann sah sie sein schiefes Lächeln. Dieser verflixte Kerl war viel zu stur, um an einer lächerlichen Schusswunde zu sterben.

Sie atmete mehrmals tief durch. Agnes war hier; sie würde dafür sorgen, dass alles gut ging.

»Lasst uns ihn nach oben bringen«, sagte Sabine, während sie stützend einen Arm um seine Taille schlang. »Komm ja nicht auf dumme Ideen«, warnte sie ihn in Erinnerung an seinen heißen Kuss unter der Treppe und versuchte, seinen flachen Bauch und muskulösen Rücken zu ignorieren.

Max lachte leise, erlaubte ihr aber, ihn die Treppe hinaufzuführen.

Sie betraten die kleine Küche, wo Sabine ihm auf einen der Stühle half. Dabei war ihr nur allzu deutlich bewusst, wie beengt der Raum sich durch Max' beeindruckende männliche Präsenz anfühlte. Ihre Tanten begannen sofort bereitzustellen, was sie brauchten: eine kleine Schüssel Wasser, eine Pinzette, saubere Tücher und einige behelfsmäßige Verbände. Für einen Moment fühlte sich Sabine wieder in die Küche ihres Cottages in Essex zurückversetzt, wenn sie sich auf die Behandlung eines Dorfbewohners vorbereitete, der einen Unfall mit einer Hacke gehabt hatte oder der nach dem Genuss von zu viel Whisky in eine Prügelei geraten war. Dort war alles friedlich gewesen, aber hier in London fand das Leben in einem viel schnelleren Rhythmus statt, und obwohl sie sich immer für eine ruhige Person gehalten hatte, machte die Hektik sie nervös.

Aber sie waren nicht in Essex, und dieser Mann war keiner der ihren. Er wusste nichts von ihren Gebräuchen oder Fähigkeiten. Und sie riskierte viel, wenn sie diese preisgab, aber sein Gesicht war mittlerweile besorgniserregend blass, und sein Rock war schwer von dem verlorenen Blut. Nein, dachte Sabine, wir haben keine andere Wahl; sie konnten auf keinen Fall riskieren, dass er verblutete oder eine lebensgefährliche Infektion bekam.

»Vergesst nicht die Salbe«, sagte Sabine.

»Sicher?«, fragte Lydia, und ihre drei Tanten wechselten einen Blick.

»Ja«, sagte Agnes. »Wir werden die Salbe brauchen.«

Lydia würde Agnes' Entscheidung nicht infrage stellen. Als Wächterin war sie die Heilerin, und das Elixier würde benutzt werden, wie sie es für richtig hielt. Bei einem Dorfbewohner hätten sie nicht einmal innegehalten, um sich seine Anwendung zu überlegen. Aber dieser Fremde würde sich wundern, wenn seine Wunde zweimal so schnell heilte, wie sie es normalerweise täte.

Während Agnes weitere Anweisungen erteilte, streifte Sabine Max den Rock ab.

Unterhalb seiner rechten Schulter war sein weißes Hemd blutdurchtränkt.

»Verdammt!«, fluchte er.

Calliope reichte ihm ein Glas, randvoll mit einer dunkelroten Flüssigkeit. »Hier, das wird gegen die Schmerzen helfen.«

»Eine Frau nach meinem Geschmack.« Er hob das Glas zu einem Toast und zuckte dabei vor Schmerz zusammen. »Danke«, sagte er und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter.

Dann versuchte er, mit einer Hand sein Hemd zu öffnen, aber es dauerte zu lange, deshalb klopfte Sabine ihm auf die Finger und schob sie weg. »So«, sagte sie und öffnete schnell die Knöpfe, obwohl sie hätte schwören können, dass ihre Finger ein wenig zitterten. Wozu überhaupt kein Grund bestand, da sie Agnes oft genug geholfen hatte, verletzte Männer zu versorgen. Sie zog Max das Hemd aus und legte seine Wunde frei.

Sie war mit Blut verklebt, sodass sie von der eigentlichen Schusswunde nicht genug erkennen konnte, um den wahren Schaden einzuschätzen. Ohne Vorwarnung drückte sie einen nassen Lappen an die Wunde. Kleine Rinnsale von Blut und Wasser liefen seinen Arm hinab.

»Das brennt«, knurrte er.

Aber Sabine musste die Wunde reinigen. In ihrer Entschlossenheit, seinen beeindruckenden Körperbau zu ignorieren, gerieten ihre Bemühungen vielleicht ein wenig gröber als beabsichtigt. »Nehmen Sie sich zusammen«, ermahnte sie ihn. »Außerdem ist die Wunde nicht sehr tief.« Sie schaute Agnes an, während sie Max so offensichtlich anlog.

Agnes nickte fast unmerklich.

Sabine hoffte, er würde nicht merken, wie tief die Wunde wirklich war. Das Beste für alle war, ihn davon zu überzeugen, dass die Verletzung nicht so schlimm sei, damit er sich nicht über den schnellen Heilungsprozess wunderte. Sie mussten die Wunde versorgen und Max nach Hause schicken, bevor er misstrauisch wurde. Jetzt, da der Auserwählte nach Agnes suchte, mussten sie noch wachsamer als gewöhnlich sein.

Ein kalter Schauder lief über Sabines Rücken. Und wenn nun dieser Mann der Auserwählte war? Sie hielt mitten in der Bewegung inne und sah Max in die Augen – in diese klaren blauen Augen, in denen echter Schmerz zu sehen war. Nein, Madigan hätte es gewusst, wenn Max der Auserwählte wäre. Er hatte ihre Landkarte und galt als Gelehrter, auch wenn er sich selbst als Abenteurer bezeichnete. Und hatte Agnes nicht gesagt, dass Phinneas eine Vision von einem »großen Mann« gehabt hatte, der ihre Karte entdeckte? Sabine entspannte sich ein wenig.

»Es ist kaum mehr als ein Kratzer«, sagte sie.

Lydia machte große Augen, und Calliope öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Agnes schüttelte den Kopf. »Calliope, schenk dem Marquis noch etwas Whisky ein.«

Er richtete sich gerader auf. »Das ist nicht meine erste Schusswunde«, ächzte er. »Und es wird auch bestimmt nicht meine letzte sein.«

Lydia berührte eine Narbe an seinem Rücken. »Ein Schuss in den Rücken, wie ich sehe. Vielleicht sollten Sie nicht mitten in der Nacht in die Häuser anderer Leute eindringen.«

»Lydia«, mahnte Calliope, als sie Max den Whisky reichte.

»Wer waren diese Männer?«, fragte Sabine, während sie fortfuhr, seine Wunde auszuwaschen.

Wieder zuckte er zusammen. »Keine Ahnung. Einbrecher, die angeheuert worden waren, um etwas zu suchen, schätze ich. Sie haben in Ihren Sachen herumgewühlt und wollten dann nach oben, um ihre Suche fortzusetzen.« Seine blauen Augen blickten forschend in die ihren. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie hier verbergen?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wir haben absolut nichts zu verbergen.« Sie ging zurück zum Becken und wechselte das Wasser in der Schüssel. »Sie müssen diesen Laden mit dem von jemand anderem verwechselt haben.«

»Warum waren sie dann so entschlossen, hinaufzugehen?«, fragte Max.

»Vielleicht wollten sie uns ja Gewalt antun«, sagte Calliope theatralisch.

Sabine betastete die unmittelbare Umgebung seiner Wunde, bis er das Gesicht verzog. »Die Kugel scheint noch in Ihrer Brust zu stecken«, sagte sie.

»Sagten Sie nicht, es wäre kaum mehr als ein Kratzer?«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

»Mein Fehler«, entschuldigte sie sich.

»Lass mich die Kugel entfernen. Du kannst derweil die Salbe vorbereiten, Sabine.« Agnes trat vor. »Aber zuerst werden Sie mir sagen, wer Sie sind«, wandte sie sich streng an Max.

Er nickte einmal. »Maxwell Barrett, Marquess of Lindberg.«

»Und was hatten Sie in unserem Geschäft zu suchen?«, fuhr sie fort.

Er suchte Sabines Blick. »Ich kam zufällig vorbei und sah die Eindringlinge. Vielleicht war ich ja nur zur rechten Zeit am rechten Ort.«

Sabine machte keine Anstalten, ihn zu korrigieren. »Unser Held«, sagte sie nur und sah zu, wie ihre Tante die Instrumente holte, die sie brauchte, und dann auf den Tisch zuging.

»Ich bin Agnes«, sagte sie, als sie sich auf dem Stuhl neben ihm niederließ und an ihn heranrückte. »Und dies sind meine Schwestern: Lydia, von der Sie angeschossen wurden, und Calliope, meine jüngste Schwester, die für dieses üble Getränk verantwortlich ist, das Sie mit alarmierender Geschwindigkeit verkonsumieren. Und diese junge Dame dort ist unsere Nichte Sabine, aber wie es scheint, sind Sie beide sich ja schon begegnet.« Sie machte eine Pause und erwiderte Max' Blick. »Ich fürchte, dass es wehtun wird.«

»Na wunderbar«, sagte er trocken. »Dabei war dieser Abend bis jetzt doch so angenehm.«

Sabine sah zu, wie Agnes mithilfe der Pinzette die Kugel aus der Brust des Marquess entfernte. Er biss die Zähne zusammen, und ein Muskel zuckte an seinem Kinn, aber kein Laut kam über seine Lippen. Aber nach drei Gläsern von Calliopes selbstgebranntem Whiskey konnte er eigentlich auch nicht mehr viel spüren.

Während Lydia die Wunde noch einmal gründlich reinigte, wandte Sabine sich von ihnen ab, um die Salbe zuzubereiten. Dazu gab sie eine kleine Menge davon in ein flaches Schälchen und verrührte sie, um die Mischung aufzulockern. So hatte sie schon früher mitgeholfen, wenn ihre Mutter Dorfbewohner behandelt hatte. Aber das war lange her, lange bevor sich alles für Sabine geändert hatte.

Max' Verletzung war schlimmer als befürchtet, und eine ihrer Tanten hatte sie verursacht. Es fehlte ihnen gerade noch, dass er sie bei der Polizei anzeigte und womöglich noch in der Presse darüber berichtet wurde. Keine besonders gute Art, sich zu verstecken, dachte Sabine.

Andererseits war er in ihren Laden eingebrochen. Die Geschichte, die er ihren Tanten erzählt hatte, war plausibel und ersparte es ihr, sich ihre Fragen selbst beantworten zu müssen. Aber sie musste mit ihm allein sein, um die Wahrheit zu erfahren.

Genau wie diese anderen Männer war er hier gewesen, um herumzuschnüffeln. War er ein Komplize der Einbrecher? Das schien eher unwahrscheinlich angesichts des Kampfes, den sie sich geliefert hatten.

»Die Wunde muss genäht werden«, meinte Agnes. »Hol meinen Nähkorb, Lydia.«

»Aber ...«, begann Lydia zu widersprechen, doch Agnes brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen.

»Falls es dir entgangen sein sollte – du hast ihn angeschossen, Lydia. Und wie es aussieht, hat der Marquis uns heute Nacht das Leben gerettet. Und nun geh und hol den Korb.«

Lydia verzichtete auf weitere Proteste, warf ihrer Schwester aber einen bösen Blick zu. »Ich finde, wir sollten Sie hinauswerfen wie die anderen Diebe«, sagte sie zu Max, bevor sie sich aufmachte, um den Korb zu holen. »Verdammte Engländer«, murmelte sie, als sie den Gang hinabmarschierte.

Sabine ging zu ihrer Tante und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Agnes, ich glaube, den Rest kann ich allein erledigen. Ihr drei solltet wieder zu Bett gehen«, sagte sie und unterstrich ihre Entschlossenheit mit einem entschiedenen Nicken. »Ihr braucht eure Ruhe.«

»Bist du sicher?«, fragte Agnes.

Sabine nickte. Auch wenn sie nicht die Heilerin war, so war sie doch zu einer ausgebildet worden. Dann war ihre Mutter gestorben, und die Wächterschaft war an Agnes und nicht an Sabine übergegangen. Es hatte ein paar Jahre gedauert, unter den zweifelnden Blicken der Dörfler, die dasaßen und darauf warteten, dass sie versagte, Vertrauen zu gewinnen. Sie schenkte ihrer Tante ein beruhigendes Lächeln. »Ich verarzte ihn, und dann wird der Marquis wieder gehen, nicht wahr?« Sabine stieß ihn am Knie an.

»Ja, natürlich«, murmelte er.

»Es wird alles gut, das verspreche ich«, sagte sie. Ihre drei Tanten standen dicht zusammengedrängt in der Küche und starrten Max nur an.

»Normalerweise würde ich mich für Ihre Gastfreundschaft bedanken«, sagte Max, dessen tiefe Stimme durch ihre kleine Küche schallte. »Aber ich würde Ihre Fürsorge nicht benötigen, wenn ich nicht angeschossen worden wäre. Dennoch war es mir ein Vergnügen, Sie alle kennenzulernen«, fügte er mit leicht ironischem Lächeln hinzu.

Sabine konnte jedoch den Humor in seinen Augen sehen, und der Knoten in ihrem Magen begann sich aufzulösen. Seine Art zu lächeln schien sie gleichzeitig zu beruhigen und zu entwaffnen.

Sowie ihre Tanten sie endlich in der Küche allein gelassen hatten, machte sie sich an ihre Aufgabe, entschlossen, sich nicht davon stören zu lassen, dass sie mit ihm allein war. Das war unerheblich. Sie war schon mit vielen Männern allein gewesen. Auch wenn keiner so gut aussehend wie der Marquess gewesen war.

Sie verknotete den Faden und sterilisierte die Nadel über der Kerzenflamme. In der Zwischenzeit versuchte sie, Max' muskulöse Brust zu ignorieren und sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Auch Männer mit nacktem Oberkörper waren für sie nichts Neues. Daheim in Essex arbeiteten Männer häufig ohne Hemd auf den Feldern. Die Männer in ihrem Dorf waren stark und gesund, aber sie hatten dunklere Haut und schwarzes Haar auf Brust und Bauch. Max war viel heller als die Männer ihres Volkes, und sein dunkelblondes Haar bedeckte nur seine Brust, um sich dann zu einer schmalen Linie zu verjüngen, die unter seinem Hosenbund verschwand.

Sie wusste, wie stark er war und was für ausgeprägte Muskeln er hatte. Als er sie vorhin unter der Treppe an sich gedrückt hatte, war es das Erste gewesen, was ihr aufgefallen war. Sie hatte das Anspannen seiner Armmuskeln gespürt, als sie ihn gekniffen hatte, um den Kuss zu beenden. Dass es ein wunderbarer, ja, geradezu berauschender Kuss gewesen war, spielte keine Rolle, denn er war völlig ungerechtfertigt und unerwünscht gewesen. Sie hatte keine Zeit, mit diesem gut aussehenden Mr Barrett oder irgendeinem anderen zu flirten. Ihre Aufgabe war es, ihre Tanten zu unterstützen und vor allem für Agnes' Sicherheit zu sorgen. Nur das durfte sie interessieren.

Sabine wagte nicht zu gestehen, dass sie heute Abend mit der Absicht zu Max' Haus gefahren war, dort einzubrechen.

Sie und ihre Tanten hatten in einer Kutsche vor seinem Haus gesessen und fast zwei Stunden darauf gewartet, dass er ausging. Lydia war vor Langeweile eingeschlafen, Agnes war ziemlich unleidlich geworden, und Calliope hatte unbedingt ihren Plan in die Tat umsetzen und einbrechen wollen, obwohl der Marquess noch daheim gewesen war. Aber er hatte weder eine Kutsche bestellt noch ein Pferd für sich satteln lassen. Und das Licht in einem Eckzimmer im Erdgeschoss war nie erloschen, auch nachdem andere Zimmer dunkel geworden waren. War dieser Raum sein Arbeitszimmer? Wo er vielleicht die Karte aufbewahrte?

Am Ende hatten sie aufgegeben, waren zu ihrem Laden zurückgefahren und zu Bett gegangen.

Und jetzt war er hier, nachdem er sich selbst als Einbrecher betätigt hatte.

»Warum sind Sie heute Nacht hier eingedrungen?«, fragte sie, als die Nadel seine Haut durchbohrte und er scharf den Atem einsog. Sabine nahm sich vor, beim nächsten Stich ein wenig sanfter vorzugehen. Es war nicht nötig, ihre Frustration an seiner Haut auszulassen. Von nun an konzentrierte sie sich ganz auf das Vernähen.

Aber Max hob langsam seinen Blick zu ihr, und der Ausdruck in seinen klaren blauen Augen ließ ihr fast den Atem stocken.

»Vielleicht wollte ich ja noch einen Kuss von Ihnen«, sagte er mit einem vielsagenden Lächeln.

Sabine wandte schnell den Blick ab und konzentrierte sich auf seine Wunde. Vielleicht war Behutsamkeit gar nicht angebracht, sondern eher Eile. Max verzog das Gesicht, als sie die Nadel durch sein Fleisch zog. »Wenn das stimmt«, sagte Sabine, »dann sind Sie vergebens gekommen, denke ich.«

»Ach ja?«

»Der Kuss war ... fantasielos.« Sie dachte nicht daran, sich anmerken zu lassen, wie ungemein verwirrend sie ihn fand. »Für meine Begriffe rechtfertigte er wohl kaum einen solchen Ausflug und schon gar nicht mitten in der Nacht. Eine ungestörte Nachtruhe hätten wir sicher beide lohnender gefunden.«

Wieder verzog er das Gesicht, aber sie war nicht sicher, ob ihrer beleidigenden Worte oder ihrer Stiche wegen. Und es kümmert dich auch nicht, ermahnte sie sich. Und auch nicht, dass sie log. Er brauchte nicht zu wissen, dass der Kuss sie mit einem heißen Prickeln durchflutet hatte, das sich bis in ihre Zehenspitzen fortgesetzt hatte. Dass sie ihn sogar jetzt noch schmecken und seine Wärme spüren konnte, als sie vor ihm saß und ihn verarztete.

»Was wissen Sie von meiner Karte?«, fragte er in einem sehr viel strengeren Tonfall als bisher.

Sabine ignorierte ihren nervösen Magen. Es war besser, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Und nicht nur das; auch ihren Eifer hinsichtlich der Karte musste sie unter Kontrolle halten. Sie brauchten diese Karte. Das Leben ihres Volks und ihrer Familie hing davon ab.

»Jemand hat mir erzählt, Sie besäßen die einzige Karte des legendären Inselreiches von Atlantis«, antwortete sie achselzuckend und brachte einen weiteren Stich an.

Wieder sah er sie an. »Und wer ist dieser Jemand?« Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, als er gleich fortfuhr: »Miss Tobias, es ist nicht allgemein bekannt, dass ich diese Karte besitze. Obwohl in gewissen Kreisen sicherlich ...« Er beendete den Satz nicht. »Ich meine, die meisten Sammler interessieren sich eher für Karten existierender Länder, weniger für die irgendeines sagenhaften Kontinents.«

Sabine wartete einen Moment, bevor sie den nächsten Stich anbrachte, weil ihre Hände zitterten. Gott, wie sehr sie dieser Mann verwirrte! Es war kein großes Geheimnis, dass viele Menschen nicht an die Existenz ihres Heimatlandes glaubten, aber diesen Faktor hatte sie in ihrer Lüge nicht bedacht. Max hatte recht. Ein herkömmlicher Kartensammler beschäftigte sich nicht mit Atlantis. Er schätzte detaillierte Karten, deren Genauigkeit mit existierenden Orten verglichen werden konnte. Aber ihr Lügenmärchen ließ sich nicht mehr ändern.

»Ich weiß nicht mehr, wer es mir gesagt hat«, erwiderte sie in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er möglichst ungezwungen klang, und lachte kurz auf, um ihre Aussage zu unterstreichen. »Außerdem sammle ich alle möglichen Karten. Ob über Existierendes oder nicht Existierendes. Ich kann mir kein Urteil darüber erlauben, was andere Sammler als erstrebenswert ansehen. Mein Interesse ist nicht das einer Gelehrten. Ich kann nur sagen, dass ich die Karten interessant finde.«

»Würden Sie mir Ihre Sammlung einmal zeigen? Ich habe nämlich auch ein großes Faible für alte Karten«, sagte er.

Die Nadel verrutschte, und Sabine stach ihn ungewollt. »Tut mir leid. Ich fürchte, das ist unmöglich. Ich bewahre die Karten nicht hier auf, weil dies nicht unser Hauptwohnsitz ist.«

»Verstehe.« Er schwieg einen Moment, bevor er wieder das Wort ergriff. »Normalerweise sind Karten, die das Sammeln wert sind, nicht gerade billig.«

»Damit wollen Sie doch wohl nicht andeuten, dass Sie mich nicht für wohlhabend genug halten, um eine Kartensammlerin zu sein?«, gab sie zurück. »Denn das wäre äußerst unhöflich und überaus anmaßend.«

»Natürlich nicht. So ungezogen könnte ich gar nicht sein.«

»Ach, dieser Charme ...«, spöttelte sie. »Ich wette, er leistet Ihnen oft gute Dienste. Oder meistens jedenfalls«, fügte sie mit einer leichten Schärfe in ihrem Ton hinzu.

»Meistens«, stimmte er ihr zu.

»Vielleicht sollten Sie nicht so viele Vermutungen anstellen. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«

Er sagte nichts, aber dieses verführerische Lächeln spielte wieder um seinen Mund.

Sabine machte den letzten Stich und verknotete den Faden. »So, das wär's.« Sie hielt inne und sah den Marquis an. Wieder war sie wie gefesselt von seinen faszinierenden Augen.

Nur mühsam wandte sie den Blick ab und versuchte sich zusammenzunehmen. »Jetzt brauchen Sie noch etwas Salbe«, murmelte sie und verteilte behutsam eine großzügige Menge der dickflüssigen Salbe auf der Naht und der umliegenden Haut. »Das wird die Heilung beschleunigen.«

»Danke«, murmelte er.

»Ungeachtet dessen, warum Sie heute Abend hier waren«, sagte sie, »bin ich Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung.«

»Sie sollten vorsichtig sein. Jemand ist hinter Ihnen her, Sabine, und obwohl Sie es mir nicht sagen wollen, kann ich mir vorstellen, warum. Wenn Sie nicht vernünftig genug sind, sich von mir helfen zu lassen, dann suchen Sie wenigstens bei jemand anderem Beistand.« Diesmal sah sie nichts Spöttisches oder Schalkhaftes in seinen Augen.

Sein Rat war gut, das ließ sich nicht bestreiten. Aber sie hatte niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. »Wir können uns selbst beschützen.«

»Vier Frauen, die allein leben, sollten immer vorsichtig sein«, meinte er.

Sie beschäftigte sich damit, die benutzten Gegenstände wegzuräumen. »Wir sind vorsichtig.« Sie hatte niemanden außer ihren Tanten. »Wir sind hier völlig sicher«, beharrte sie, obwohl ihr heute Abend das Gegenteil bewiesen worden war.

»Ja«, stimmte er spöttisch zu. »Von der Treffsicherheit Ihrer Tante einmal abgesehen.«

Dann erhob er sich und zog sein Hemd an. Als er den Arm ausstreckte, um seinen blutbefleckten Mantel anzuziehen, fuhr er zusammen, aber Sabine machte keine Anstalten, ihn noch einmal zu berühren.

Schweigend gingen sie zusammen die Treppe hinunter, dann wandte er sich ihr zu und sagte: »Bekomme ich noch einen Kuss für meine Mühe?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte sie, obwohl die Frage und sein mutwilliges Lächeln ihr Herz schneller schlagen ließen.

»Schade.« Er beugte sich zu ihr vor und drückte seinen warmen Mund auf ihre Hand.

Sabine machte die Tür hinter ihm zu und schloss sie ab, bevor sie sich wieder zur Treppe umwandte und dabei fast mit Calliope und ihren beiden anderen Tanten zusammenstieß.

»Du liebe Güte, habt ihr mich erschreckt! Was schleicht ihr hier herum?«

»Wir schleichen nicht herum«, protestierte Agnes.

»Wir sind gekommen, um dir zu helfen«, sagte Calliope.

»Bei was zu helfen?«, fragte Sabine, als sich alle auf den Weg nach oben machten.

Keine ihrer Tanten antwortete.

»Hast du nach der Amphore gesehen?«, fragte Sabine.

»Ja, sie ist noch dort, wo ich sie gelassen habe«, sagte Agnes.

Und sofort kam Sabine sich sehr dumm vor, weil sie danach gefragt hatte. Natürlich hatte Agnes die nötigen Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit des Elixiers zu garantieren.

»Er ist also der Mann mit der Karte«, sagte Lydia, die Arme vor der Brust verschränkt. »Der Mann, von dem dir Madigan erzählt hat?«

»Ja«, bestätigte Sabine. Sie alle folgten ihr in ihr Zimmer, und deshalb setzte sie sich auf ihr Bett und hoffte, dass ihre Tanten den Wink verstehen und sich ebenfalls zu Bett begeben würden. Sie wollte nicht ihre Fragen abwehren müssen.

»Er ist jünger und attraktiver, als ich gedacht hätte«, bemerkte Agnes.

»In der Tat«, stimmte Lydia zu und schürzte ihre Lippen.

Calliope nickte enthusiastisch.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, flunkerte Sabine.

»Dann wirst du sicher auch nicht bemerkt haben, was für einen großartigen Körperbau er hat«, sagte Agnes.

»Also wirklich, Agnes!«, rügte Lydia.

»Was?« Agnes warf die Arme hoch. »Ich bin alt, aber nicht blind.«

Sabine ignorierte das Geplänkel.

»Er war heute Morgen im Laden«, informierte Calliope mit einem breiten Grinsen ihre Schwestern.

Sabine warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Und du hast uns nichts davon erzählt.« Agnes schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du hast Geheimnisse vor deinen alten Tanten?«

Sabine wusste, dass Agnes sie nur aufzog. Schließlich hatte gerade sie Sabine dazu ermutigt, über einen Teil ihres Lebens Stillschweigen zu bewahren. Aber auch Lydia stand noch immer da, und sie würde eine Antwort wollen. »Es bestand kein Grund dazu«, sagte Sabine.

»Was wollte er?«, fragte Lydia.

»Er wollte wissen, warum ich mich für seine Karte interessiere.« Sabine zuckte die Schultern. »Wie ich davon erfahren hatte. Alles Fragen, die jeder stellen würde, wenn wie aus dem Nichts eine Frau auftaucht und eine Wette anbietet, um an seinen kostbaren Besitz zu kommen.«

»Und was hast du ihm gesagt?«, wollte Agnes wissen.

Sabine holte tief Luft. »Ich habe ihn belogen und mich für eine Sammlerin ausgegeben.«

»Aber er glaubt dir nicht«, sagte Calliope kopfschüttelnd.

»Leider nicht«, erwiderte Sabine.

»Aber wir brauchen diese Karte immer noch«, sagte Lydia. »Unbedingt«, fügte sie hinzu.

»Ich werde mir etwas einfallen lassen.« Sabine sah ihre Tanten an. Sie musste einen Weg finden, an die Karte zu kommen. Und sie wollte die Aufgabe möglichst ohne Einmischung ihrer Tanten erledigen. Sie mussten sich auf sie verlassen können.

»Und was war mit den anderen Männern?«, fragte Agnes. »Was wollten die hier?«

Sabine fuhr sich mit einer Bürste durch das Haar. »Ich habe keine Ahnung.«

»Sie waren bestimmt hinter dem Elixier her«, meinte Agnes.

Lydia schüttelte den Kopf. »So schnell kann der Auserwählte uns nicht gefunden haben. Dazu haben wir uns viel zu raffiniert verborgen. Das meinte sogar Madigan. Und auch er hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um sicherzugehen, dass er nicht hierher verfolgt wurde.«

Madigan. Er hatte sein Leben riskiert, um sie vor der Prophezeiung zu warnen und Sabine zu sagen, wo die Karte zu finden war, und trotzdem war es ihr bisher nicht gelungen, sie zurückzuholen. Frustriert legte sie die Bürste weg.

»Vielleicht war es ja auch nur ein ganz normaler Einbruch«, gab Calliope zu bedenken. »Ich bin mir sogar sicher, dass es nichts anderes war. Läden werden ständig ausgeraubt.«

»Trotzdem wäre es möglich, dass sie hinter dem Elixier her waren«, sagte Lydia.

»Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Warum waren es drei Männer? Es heißt ›der Auserwählte‹, nicht die Auserwählten.« Sabine schüttelte den Kopf. »Ich habe die Männer reden gehört; sie suchten nichts Spezielles. Es waren gewöhnliche Diebe, mehr nicht. Und ich kann nicht glauben, dass der Auserwählte Ganoven schicken würde, um eine solch wichtige Aufgabe zu erledigen.«

Die Atlantiden waren gewarnt vor dem Auserwählten, da er der mächtigste Feind ihres Volkes war – heimtückisch und schlau, mit Möglichkeiten, herauszufinden, wo sich das Elixier befand. Würde so jemand einen solchen Fehler machen? Sabine konnte das nicht glauben.

Ihre Tanten schwiegen eine Weile, als dächten sie über ihre Worte nach, dann machte Lydia ein paar Schritte auf Sabine zu. »War die Verwendung des Elixiers heute Abend wirklich nötig?«

»Ich habe getan, was ich tun musste. Ihr habt seine Wunde gesehen. Sie war tief, die Kugel steckte noch darin, und ich hatte Angst, sie könnte sich entzünden«, sagte Sabine.

»Ja, aber er ist ein Engländer«, wandte Lydia ein.

Sabine stand von ihrem Bett auf, um Abstand zwischen sich und ihre älteste Tante zu bringen. Sie wollte gerade etwas erwidern, als Agnes das Wort ergriff: »Ich bin die Heilerin. Es war meine Entscheidung.«

Lydia holte tief Luft und nickte, sagte aber nichts mehr.

Sabine musste die Prophezeiung in die Hände bekommen, je eher, desto besser. Und deshalb würde sie Maxwell Barrett morgen einen Besuch abstatten.

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