51

Am späten Nachmittag rief Konrad mich an.

»Heute Nacht um zwei, alte Stelle«, sagte er, und ich antwortete: »Okay, alte Stelle.« Die Verbindung zwischen Konrad und Siggi Meier interessierte mich in dem Augenblick nur am Rande. Ich wollte an die Unterlagen von Bea Rudolf. Das ging nur mit Konrads Hilfe. Alles andere würde ich danach überdenken.

Kurz vor zwei hockte ich im Schutz der alten Buchenhecke dicht an der Krankenhausmauer, die den Klinikpark begrenzte. Von gegenüber schien schwach das Licht der Straßenlaterne auf die Autos, die in den Parkbuchten standen. Die Kälte kroch durch die dicken Profilsohlen meiner Stiefel und die Beine entlang und begegnete jener Hundskälte, die von den Händen aus – was nutzten denn auch schon Wollhandschuhe? – durch meinen Körper wanderte.

Wenn Konrad nicht pünktlich kam, würde er nur noch einen unbrauchbaren Eiszapfen vorfinden. Ich umklammerte meine Knie mit den Armen, presste mein Gesicht gegen die Kälte in die Armbeuge und fragte mich, was ich hier eigentlich tat.

Konrad kam zum Glück pünktlich. Ich hatte ihn nicht gehört, und so stupste er mich mit der Stiefelspitze an. Erleichtert schaute ich auf. Ich hatte erwartet, dass er eine schwarze Maske tragen würde. Er trug keine und lachte leise, als ich ihn danach fragte. Dann hielt er mir die Hände entgegen. Sie steckten in Gärtnerhandschuhen aus festem Leder. Ich zeigte ihm Eddies alte selbstgestrickte Wollhandschuhe.

»Wenn Sie uns erwischen, ist eine Maske kontraproduktiv. Dann sind wir fällig. Ohne Maske können wir behaupten, wir hätten uns verlaufen und würden die Notaufnahme suchen.«

Das leuchtete mir ein.

»Bist du bereit?«, fragte Konrad, und ich nickte, obwohl ich alles andere als bereit war.

»Na dann«, sagte Konrad und zerteilte mit den Armen die dichten Zweige über seinem Kopf. Schnee fiel herunter, und ich zog den Kopf ein. Er setzte einen Fuß in eine Astgabelung, schob ihn vor und zurück für einen stabilen Halt und zerteilte die Äste über sich. Nachtgrölend brachen ein paar gefrorene Zweige.

Ich lauschte angestrengt. Bei der geringsten Bewegung auf der Straße würde ich türmen. Das stand fest.

Konrad stieg auf den nächsten Ast und schwang sich von dort aus auf die Mauer, die etwa zweieinhalb Meter hoch war. Er hielt von oben die Zweige für mich auseinander, und ich trat mit einem Fuß in die erste Astgabel. Es war glatt, ich rutschte nach vorn und griff panisch in die eisüberzogenen Zweige vor mir. Konrad packte mich am Kragen.

Er sagte mir, was ich tun sollte, und ich kroch zur nächsten Astgabel nach oben. Er ergriff meine Hand und zog mich zu sich auf die Mauer, während ich mich von unten abstieß.

»Hast du deinen Fotoapparat dabei?«, flüsterte er. Ich wischte mir mit den Wollhandschuhen den Schnee aus dem Gesicht und klopfte auf meine Jackentasche.

»Ich auch«, sagte er, setzte sich auf, stieß sich mit den Händen ab und landete unten im Schnee. Er hielt die Arme in die Höhe, und ich sprang hinein. Er zeigte auf die Rückseite des Wirtschaftsgebäudes mit der Wäscherei und der Küche. Es gab eine Art Tunnelsystem, das die einzelnen Gebäude mit der Küche verband. Konrad glaubte, dass wir so die besten Chancen hätten, unbemerkt in den neuen Krankenhaustrakt zu gelangen, der gleich neben dem Pförtnerhaus lag.

Geduckt rannten wir zu einem Notausgang hinüber. Im Schein einer kleinen grünen Lampe blieb Konrad stehen, kramte in einer der vielen Taschen seiner Jacke und zog einen Schlüssel hervor. Der Schlüssel glitt in das Schloss wie in weiche Butter. Ich traute meinen Augen nicht.

»So gebt ihr bei den Bauaufträgen das beste Gebot ab?«, fragte ich, als wir durch die Tür schlüpften.

Konrad antwortete nicht. Er holte eine Stablampe heraus, betrachtete den Gebäudeplan neben der Tür, als überprüfte er ihn mit dem, den er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte, und ging zielstrebig los. Ich folgte ihm.

»Ihr habt die Schlüssel für alle eure Bauten nachmachen lassen«, sagte ich leise.

»Sei still.« Er sah mich von der Seite an und bog schnellen Schrittes nach rechts ab in einen Nebengang. Ich fiel zwei Schritte zurück und ging schneller.

»Es ist nie Zufall gewesen«, flüsterte ich, als ich wieder zu ihm aufschloss.

»Julie«, zischte er. »Halt jetzt bitte den Mund.«

Das war leicht gesagt. Ich redete ja nicht zum Vergnügen. Ich redete gegen meine Nervosität an. Konrad hatte Erfahrung mit Einbrüchen. Ich nicht, und um ehrlich zu sein: Ich machte mir vor Angst fast in die Hose. Und wenn ich Angst hatte, dann redete ich. Also rannte ich neben ihm her und fasste meine Theorie zusammen. Sie war ziemlich banal, aber man konnte darüber sprechen.

»Ihr gebt euer Angebot am Stichtag ab, dann schleichst du dich nachts mit einem deiner Nachschlüssel in die Baubehörde rein, und dann bessert ihr euer Angebot nach.«

Konrad blieb abrupt stehen: »Wie soll denn das gehen?«

»Du fotografierst die anderen Angebote, verbesserst dein eigenes, gehst wieder rein und tauschst die Seiten aus.«

»So würdest du es machen?« Er sah auf die Uhr.

Ich antwortete nicht. Meine Gedanken flogen durch ihr eigenes Universum und waren schon wieder anderswo. »Wie weit ist es noch? Bist du sicher, dass wir richtig sind?«

Er nickte: »Du bist eine Nervensäge.«

Wir bogen in einen Gang ab, an dessen Ende ich die Schwingtür zur Pathologischen Abteilung erkannte. Ich konnte fast nicht glauben, dass das Ganze so leicht gewesen sein sollte, und lachte.

Konrad stieß mir einen Ellenbogen in die Rippen. »Reiß dich zusammen.«

Ich biss die Zähne zusammen.

Wir traten durch die Schwingtür in den gekachelten Raum ein, in dem ich Bea Rudolf besucht hatte und in dem die Leichen in Kühlfächern lagerten. Wurde denn hier nachts nicht abgeschlossen? Ich staunte schon wieder.

Das Licht von Konrads Taschenlampe wanderte über die Fußbodenkacheln auf Bea Rudolfs Büro zu.

Die Tür war verschlossen.

Konrad sah mich an und zuckte mit den Achseln. »Das wird nichts«, flüsterte er. »Dafür habe ich keinen Schlüssel.«

Mich traf fast der Schlag. Fassungslos sah ich ihn an. Ein Schwall Schimpfwörter kroch in mir hoch, und ich öffnete den Mund, doch er legte einfach seine Hand darauf.

»Es war nur Spaß«, sagte er dann und zog noch einen Schlüssel hervor.

Ich sah benommen zu, wie er mit der einen Hand die Tür öffnete, während die andere weiter auf meinem Mund blieb.

»Alles okay mit dir?«, fragte Konrad.

Ich riss mich zusammen und nickte. Er nahm seine Hand von meinem Mund, öffnete die Tür und tastete nach dem Lichtschalter.

Und dann traf mich gleich der zweite Schock.

Auf Bea Rudolfs Schreibtisch lagen zwei dünne grüne Aktenordner nebeneinander. Auf weißen Schildern standen säuberlich mit schwarzem Kugelschreiber die Namen »Charles Swann« und »Claudia Langhoff«.

Mein erster Gedanke war Flucht. Jemand hatte meinen Plan verraten. Mein zweiter Gedanke war, dass ich diese Gelegenheit nie wieder bekommen würde. Und mein dritter: Bea Rudolf hatte es vorausgesehen oder sich einfach gewünscht, dass ich käme. Mein vierter: Sie war gedankenlos und nachlässig. Den vierten schloss ich aus.

»Also los«, sagte Konrad ohne jede Überraschung in der Stimme. »Fotografieren wir es.«

»Es reicht doch, wenn ich es mache«, sagte ich.

»Diskutier nicht schon wieder. Ich will jetzt wissen, was mit Claudia passiert ist. Und ich will alles haben, was ich kriegen kann.«

Ich holte meine Digitalkamera aus der Jackentasche, klappte Charles’ Ordner auf, beugte mich darüber und fotografierte eine Seite nach der anderen. Alles, jedes Detail mit Fotos und Obduktionsbericht. Konrad fotografierte derweil mit der gleichen Akribie die Unterlagen seiner Schwester.

Wir fotografierten schweigend und tauschten dann die Ordner.

Es war die Seite mit den Spermaspuren, die Bea Rudolf in Claudias Körper gefunden hatte. In ihrer Vagina und im Mund. Verletzungen wiesen jedoch auch auf analen Missbrauch hin. Vielleicht mit einem Gegenstand. Ich überflog den Befund. Claudia hatte Hautpartikel unter den Nägeln, und es gab Haare von Leo auf ihrer Kleidung. Bea Rudolf hatte sie mit der DNA verglichen, die sie von Speichelspuren aus Leos Zahnbürste gewonnen hatte. Das besagte jedoch nichts, dachte ich und blätterte weiter. Claudias Kleid hatte im Höschen gesteckt, als sie Leo mittags verließ. Sie hatte alle Register gezogen, um Leo zurückzugewinnen. Offensichtlich hatte Leo sich verführen lassen – sich jedoch trotzdem von ihr getrennt. Und offensichtlich hatte derjenige, der sie getötet hatte, ein Kondom und Handschuhe, vielleicht sogar einen Schutzanzug getragen.

Als wir fertig waren, gingen wir denselben Weg zurück. Ich hoffte, möglichst schnell wieder in meinem Bett zu sein.