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Paula Wenners Tochter war eines von Koslowskis Opfern, hatte Heiner Mundt gesagt, und noch während wir uns weiter am Telefon unterhielten, übernahmen meine Mutterinstinkte die Führung. Kaum hatte ich aufgelegt, stieg ich leise nach oben ins Dachgeschoss und öffnete die Tür.

Ich erwischte sie, wie sie mit roten Köpfen etwas unter die Bettdecke stopften. Es könnte ein »Playboy« sein. Sie waren in dem Alter. Dann legten sie ihre Hände sittsam auf die Decke und schauten unschuldig drein.

Ich unterdrückte ein Lächeln und atmete auf. Wahrscheinlich hatte Chris einen »Playboy« von seinem Vater mitgehen lassen. Sie lagen bei Cornelius auf der Toilette im tiefsten und gründlich missverstandenen Vertrauen, dass ein Achtjähriger sich nicht an barbusigen Damen ergötzte.

Die Jungs warteten reglos auf meine Reaktion. Im Bruchteil einer Sekunde entschied ich, so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt. Ich sagte »Hallo« und fragte, was sie zum Frühstück wollten, Crunchy Nuts oder Choco Poppies oder lieber ein weichgekochtes Ei oder Rührei.

Sie entschieden sich einstimmig für Crunchy Nuts und Choco Poppies, ich hatte es nicht anders erwartet.

Ich sagte, ich würde sie in einer halben Stunde in der Küche erwarten, ging wieder in mein Zimmer und rief im Seniorenheim an.

Eine Frauenstimme meldete sich.

»Hanse-Residenz Rosenhof.«

Ich nannte meinen Namen und fragte nach den Besuchszeiten.

Es gebe keine.

»Wie bitte?«

»Das Haus steht jederzeit den Besuchern offen. Es sei denn, der Bewohner möchte Sie nicht sehen. Aber das können Sie selbst erfragen.«

»Ich möchte gern Frau Bartels sprechen.«

Die Rezeptionistin bat mich um einen Moment Geduld. Sie würde mich mit dem Zimmer von Frau Bartels verbinden, aber es könnte sein, dass sie das Telefon nicht hörte. »I’ve had the Time of my Life«, tönte es gleich darauf durch die Leitung. Ich lächelte, wartete, spazierte durchs Zimmer und zog die Vorhänge am Fenster beiseite. Über den Gärten hing ein schlapper, graugesichtiger Himmel, der noch morgenmüder war als ich.

Unten wurde die Haustür geöffnet. Ich presste mein Gesicht gegen die Fensterscheibe und sah hinaus. Mein Vater ging in seiner alten wattierten Arbeitsjacke und dicken Boots über den Hof zum Schuppen, während er aus einem Eimer Sand streute.

Ich schlenderte zurück zum Bett und wartete. Der Song dudelte ein zweites Mal.

Ich stand auf, ging wieder ans Fenster und lauschte der Musik. Unten im Hof öffnete sich die Schuppentür. Eine hagere Gestalt trat heraus, blieb stehen, sah hoch zum Fenster und winkte. Ich winkte automatisch zurück.

Verdammt – wer war das?

Ich stürzte mit dem Handy am Ohr zur Tür, rannte die Treppe hinunter, stieg hastig in die viel zu großen Winterstiefel meines Vaters, riss die Jacke vom Haken und warf sie mir im Laufen über. In der Küche rannte ich an meinem Vater vorbei, der mir entgeistert nachrief, wo ich denn hinwollte.

Am Telefon unterbrach die Rezeptionistin das Duett.

»Sie geht nicht ran.«

»Und wie kann ich mich dann mit ihr verabreden?«, fragte ich, während ich die Treppe zum Hof hinuntersprang.

»Heute?«

»Ja«, keuchte ich, während ich meine liebe Not damit hatte, die Boots nicht zu verlieren.

»Kommen Sie einfach vorbei. Das ist am besten.«

»In ungefähr zwei Stunden?« Ich lief am Schuppen entlang.

»Das geht in Ordnung. Ist was mit Ihnen? Sie klingen so komisch.«

»Ist sie dann da?«, fragte ich.

Ich stolperte durch den verschneiten Garten und suchte nach der Gestalt, die ich von oben gesehen hatte.

»Frau Bartels ist immer da. Aber ist was mit Ihnen? Sie sind ja ganz außer Atem.«

Ich japste ein »Schon okay, danke«, drückte das Gespräch weg und durchpflügte weiter den wadenhohen Schnee, so schnell es in den Stiefeln eben ging.

Am Bachlauf blieb ich schließlich verschwitzt und atemlos stehen. Ich hatte keine Chance, den Mann einzuholen.