37

Jemand zog die Bettdecke über meine Schulter.

Ich blinzelte. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach sieben«, sagte mein Vater, »schlaf dich aus.«

Er sammelte die Notizen und Artikel von meinem Bett, schob hier ein wenig, rüttelte da und legte die Seiten schließlich in einem ordentlichen Stapel auf den Fußboden. Dann beugte er sich über mich und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Lass dir Zeit«, sagte er und küsste mich auf die Stirn, wie es früher Eddie getan hatte, wenn es mir schlecht ging.

Gequält lächelte ich ihn an und wartete, dass er das Zimmer verließ. Ich lauschte auf seine Schritte, die sich draußen auf dem Korridor entfernten, während ich mir wünschte, Alex möge mich in die Arme nehmen, mir zuflüstern, alles würde gut werden und ich müsste mir keine Sorgen mehr machen. Er wäre da. Jetzt und für immer. Für mich, für Max und für das Baby.

Tagträume eben. Noch dazu lausige. Alex gab es nicht mehr.

Ich presste die Hand auf den Mund und drückte den Kopf ins Kissen. Das Weinen schüttelte meinen Körper, und ich ergab mich dem Schmerz.

Mistkerl, dachte ich auf einmal mit einer Schärfe, die mich selbst überraschte.

Ich setzte mich auf. Mein Gesicht glühte, und meine Augen brannten. Ich nahm ein Taschentuch vom Nachttisch und putzte mir die Nase.

Was war Alex für ein Mann? Verschwand ohne jedes Wort, nur weil ich jemanden liebte, der seit Langem tot war?

Ich hatte genug von ihm, und ich war meiner Hilflosigkeit, meiner Trauer und meines Selbstmitleids überdrüssig. Ich wollte etwas tun, etwas aufklären, verdammt noch mal. Ich wollte wissen, wo Leo war, ob er Claudia umgebracht hatte, ob Nora und Vera Schnitter, ob Margo. Ich wollte wissen, ob Leo ein Serienmörder war.

Koslowski war überzeugt gewesen, schlauer zu sein als alle anderen. Er hatte nichts dem Zufall überlassen. Er spielte Spiele. Jetzt war er tot. Warum hatte er mir erzählt, er habe Claudia nicht ermordet? Worin lag sein Triumph, wenn er ihn nicht mehr erlebte? Was verbarg der Ordner?

Ich schaltete die Nachttischlampe an und nahm mir noch einmal Koslowskis Materialsammlung vor.

Ich war wie mein Vater ein Frühaufsteher. Bevor ich in die Redaktion fuhr, arbeitete ich morgens im Bett oft noch ein paar Unterlagen durch. Es war keine Last, sondern ein geruhsames Warmlaufen für den bevorstehenden Tag.

Cornelius und ich hatten die Artikel am Abend zuvor chronologisch geordnet, so dass regionale und überregionale durcheinander abgeheftet waren. Ich heftete nun alle regionalen Artikel der Solthavener Zeitung chronologisch hintereinander.

Die meisten waren von einem P. B. gezeichnet, doch P. B. hörte vor Koslowskis Prozess auf zu berichten. Die letzten Artikel waren von einem H. M. gezeichnet. Das Kürzel sagte mir ebenso wenig wie P. B.

Ich lauschte. Das Haus war wieder still. Chris und Max schliefen noch, und mein Vater hatte sich wohl wieder in sein Zimmer zurückgezogen.

Ich überlegte, ob ich bei der Solthavener Zeitung anrufen sollte. Vielleicht hatte ich Glück und es gab noch einen der alten Hasen, der sich an einen P. B. oder H. M. erinnerte.

Tageszeitungen waren in der Regel rund um die Uhr besetzt. Zumindest aber würde auch bei diesem Lokalblatt irgendein Redakteur Bereitschaftsdienst haben und sich melden, wenn ich die Zentrale anrief.

Ich griff nach meinem Handy, wählte die Auskunft und ließ mich mit der Zeitung verbinden. Während ich wartete, fuhr ich mein Laptop hoch.

Die weibliche Stimme, die sich meldete, klang jung. Sie gestand, erst seit drei Monaten als Volontärin bei der Zeitung zu arbeiten und noch nie von einem P. B. gehört zu haben.

»Vielleicht von einem H. M.?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Das sei das Kürzel von Heiner Mundt, dem Ressortleiter für Lokales. Ich erklärte, dass ich ihn dringend sprechen müsste, und sie bat mich, in der Leitung zu bleiben.

Während ich wartete, wählte ich meine Mailbox an und überflog die eingegangenen Nachrichten. Es überraschte mich nicht einmal mehr, dass ich keine von Alex fand.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich schließlich ein Mann mit einer Stimme, die so rau und müde klang, als hätte er die Nacht durchgefeiert.

»Was gibt’s denn?«

»Guten Morgen«, sagte ich munterer, als ich mich fühlte. »Julie Lambert hier.«

»Heiner Mundt«, knurrte der Mann.

»Ich bin Reporterin«, begann ich.

»Ach«, kam es noch knurriger zurück.

»Aus Hamburg.«

»Und? Wo ist jetzt der Knaller?«

»Lambert war der Knaller.«

Er schwieg einen Moment. Dann lachte er, wobei seine Stimmbänder knarrten wie die Angeln eines Tores, das man seit Ewigkeiten nicht geöffnet hatte.

»Julie Lambert?«, wiederholte er dann. »Ist Jahre her, was?«

»Ja.«

»Und? Was wollen Sie so früh?«

»Ich habe eine Frage. Wer ist P. B., und wo kann ich ihn finden?«

»P. B.?«, fragte er eine Spur weniger knarrend. Dann schwieg er.

»P. B., sagt Ihnen das was?«

»Ja«, sagte er. »Klar. Er ist tot. Sein Name war Peter Bartels.«

»Woran ist er gestorben?«

»Das wissen Sie nicht?«, fragte er, und ich vernahm das Schnappen eines Feuerzeugs. »Autounfall. Die Polizei hat es jedenfalls als Unfall abgelegt.«

»Das klingt, als würden Sie etwas anderes glauben.«

»Yep.«

»Möchten Sie es mir sagen?«

»Ich glaube, jemand hat da was gedreht.«

»Und was?« Ich kramte auf dem Boden nach einem Bleistift und meinem Notizheft und machte mich bereit, Wichtiges mitzuschreiben. Das tat ich immer, wenn ich mein Aufnahmegerät nicht mitlaufen ließ. Auch wenn mein Gedächtnis gut funktionierte, war es doch gut zu wissen, dass ich die Fakten schriftlich festgehalten hatte.

»Für ’ne Reporterin sind Sie ziemlich schlecht vorbereitet«, sagte er. »Wie machen Sie denn so Ihre Recherchen?«

»Indem ich Leute wie Sie anrufe«, erwiderte ich trocken.

Er lachte wieder und stieß hörbar Rauch aus. Dann begann er zu erzählen. Ich legte das Handy aufs Bett, schaltete den Lautsprecher ein und schrieb mit fliegendem Stift das Wesentliche mit.

»Peter Bartels starb angeblich bei einem Autounfall, als er mitten in der Berichterstattung zum Fall Koslowski steckte. Ich war damals noch ein junger Spund. Hatte gerade erst angefangen. Ich hab dann nach Peters Tod die letzten Artikel geschrieben. Er hatte mich ein bisschen unter seine Fittiche genommen. Deshalb war ich auch ganz gut über den Fall informiert. Dann soll Peter nachts von der Fahrbahn abgekommen sein, auf einer Strecke, die er wie seine Westentasche kannte, und er soll gegen einen Baum gefahren sein? Völliger Unsinn, wenn Sie mich fragen. Aber die Polizei konnte den Fall damals gar nicht schnell genug zu den Akten legen. Trunkenheit am Steuer, lautete die Unfallursache. Das Ding hatte nur einen Haken.«

Er schwieg und stieß erneut Rauch aus.

Ich schwieg ebenfalls.

»Er hatte etwa vier Monate vorher aufgehört zu trinken«, fuhr er schließlich fort. »Davor hätte ich den Autounfall jedem abgenommen. Doch an diesem Tag nicht mehr. Er hat jahrelang gesoffen. Richtig gesoffen. Morgens schon den ersten Schnaps zum Kaffee. Meistens begann er mit Kirschlikör. Den gab es ja immer. Für meinen Geschmack viel zu süß und klebrig. Erinnern Sie sich an das Zeug?«, fragte er.

Ich erinnerte mich sogar gut. Leo und Charles hatten sich damit mal sinnlos betrunken, Leo wegen irgendeiner Frau, Charles einfach so. Dann hatte Leo sich in der Küche ins Waschbecken übergeben. Ich musste es säubern, weil er dazu nicht mehr in der Lage war.

»Dabei war er immer klar im Kopf«, hörte ich Heiner Mundt weitersprechen. »So war es nicht. Aber er brauchte eben den Alkohol. Bis er diese Frau beim Turnfest kennen lernte. Es hatte ihn richtig erwischt. Noch am selben Abend erzählte er überall herum, dass er ab sofort keinen Tropfen mehr trinken würde. Wir haben Wetten abgeschlossen, wie lange er durchhalten würde. Ich hab 50 Mäuse gewonnen, weil ich wusste, dass die Frau es ihm wert war und er alles durchzog, wenn er sich einmal etwas vorgenommen hatte. Er war dann wie ein Pittbull, der sich verbissen hatte. Er ließ nicht wieder los.«

Er inhalierte einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und fragte: »Also, weshalb interessieren Sie sich jetzt auf einmal dafür?«

»Wissen Sie genauer, woran er gearbeitet hat?«

»Das sagte ich bereits. Er arbeitete an dem Koslowski-Fall.«

»Hatte er etwas Neues herausgefunden?«

Er schwieg einen Moment.

»Sie sind Leos kleine Schwester?«

»Kannten Sie Leo etwa?«

»Der kam doch in dem Sommer jeden Tag vorbei und stand Peter so lange auf den Füßen rum, bis er ihn mit ein paar Hilfsarbeiten beschäftigte. Leserbriefe beantworten, Traueranzeigen schreiben. So was. Der Junge wollte unbedingt Journalist werden, oder wissen Sie das etwa auch nicht?«

»Doch«, sagte ich. »Er hatte nur keine Chance.«

»Sind Sie deshalb Journalistin geworden?«

»Nein«, sagte ich eine Spur zu schnell. »Kommen wir auf Peter Bartels zurück. War er vor seinem Tod anders als sonst?«

»Er war in der Zeit ziemlich nervös. Das war auch kein Wunder, nachdem die Tochter seiner Freundin ermordet worden war. Aber er fing nicht wieder an zu trinken.«

Ich war alarmiert.

»Wie alt war das Mädchen?«

»Weiß ich nicht mehr. Vielleicht sechs oder sieben.«

»Sie war eine von Koslowskis Opfern, stimmt’s?«

»Was denken Sie denn?«

»Also war er auf einmal persönlich involviert.«

»Das haben Sie aber messerscharf geschlussfolgert.«

Ich ließ mich nicht provozieren.

»Hatte er nun etwas Neues herausbekommen oder nicht?«, bohrte ich. »Das müssen Sie doch mitbekommen haben. Sie sagten eben, Sie hätten nach seinem Tod die Berichterstattung übernommen.«

»Ich war ein blutjunger Anfänger, und er hat sich mir nun mal nicht anvertraut«, sagte er. »Aber Sie können seine Freundin fragen. Vielleicht weiß die ja was.«

»Wie heißt sie?«

»Paula Wenner.«

»Mit Doppel-N?«

»Nehm ich mal an.«

Ich notierte den Namen und unterstrich ihn drei Mal.

»Sie können es natürlich auch bei seiner Mutter versuchen. Die muss noch leben. Sie müsste jetzt weit in den Achtzigern sein. Wenn ich mich richtig erinnere, ist sie vor ein paar Jahren ins Seniorenheim gezogen. Wenn Sie Glück haben, hat sie was von seinen Sachen behalten.«

»Von welchen Sachen?«

»Die ich ihr nach seinem Tod gebracht habe. Ich habe seinen Schreibtisch ausgeräumt und ihr alles vorbeigebracht. Es war nicht so viel. Private Tasse, extragroß für Kaffee mit Schnaps. So was. Passte alles in einen Schuhkarton.«

»Haben Sie eine Adresse?«

»Lange nicht hier gewesen, was?« Er lachte wieder und erklärte mir, dass es nur ein Seniorenheim gab und wo ich es finden konnte.

»Weshalb haben Sie es nicht an seine Freundin geschickt?«

»Die wohnten nicht zusammen. Die war ja völlig durch den Wind. Erst das Kind und dann der Freund.« Er machte eine Pause. »Offen gestanden, die war in der Zeit völlig hysterisch. Aus der kriegte man kein normales Wort raus. Sie hat fast nur geheult. Ich glaub, die war nach Peters Tod sogar mal im Krankenhaus. War wohl alles zu viel.«

»Haben Sie von ihr auch eine Adresse oder Telefonnummer?«

Er bat um einen Moment Geduld, legte den Hörer beiseite, und ich hörte, wie er etwas durchblätterte. Ein Rolodex. Die junge Nachwuchsredakteurin wusste wahrscheinlich nicht einmal mehr, wie man ein Telefonverzeichnis handschriftlich anlegte.

Als er sich wieder meldete, notierte ich mir Paula Wenners Adresse und Telefonnummer, und dann suchte er für mich noch die Nummer des Heims heraus.