25

Ich ging langsam. In mir kreisten zu viele Fragen, zu viele Ungewissheiten und zu viel Schmerz, der mich auszuhöhlen begann.

Max kam durch den Vorgarten meines Vaters mit wehenden Jackenschößen auf mich zugerannt.

»Jan kann nicht kommen!«, rief er mir entgegen. »Er ist bei der Polizei!«

Ich hob abwehrend einen Arm. Er stoppte schlitternd und kam kurz vor mir zum Stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah er zu mir hoch. Seine Mütze saß wieder mal schief in der Stirn.

Aus der Ferne näherten sich Polizeisirenen.

»Ich weiß«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen. Die Polizei will ihn nur etwas fragen, weil er vielleicht helfen kann.«

Banale Sätze. Was man Kindern eben sagt, wenn sie durcheinander sind und man selbst mit etwas anderem beschäftigt ist.

»Und bei was?«, fragte er.

»Er war Zeuge bei einem Verbrechen.«

Er riss die Augen ungläubig auf. »Ist ja cool.«

»Die Polizei bringt ihn vielleicht schon zurück. Lass uns reingehen«, sagte ich und wollte an ihm vorbei, als er gerade seine Hand in meine legen wollte. Wortlos drehte er sich um und stürmte vor mir ins Haus.

Als ich in die Küche kam, stand mein Vater mit einem Tetrapak Milch in der Hand vor dem Kühlschrank.

»Bei was war Jan denn Zeuge?« Max warf sich auf einen Küchenstuhl und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein kleiner Ganove, der seinen großen Filmhelden nacheiferte und sich cool gab.

»Zieh deine Schuhe aus«, sagte Adam zu Max und wandte sich dann an mich. »Wo warst du so lange?«

»Auf dem Friedhof. Mit Kortner.«

Mein Vater setzte sich mir gegenüber. »Max, ich sagte, zieh die Schuhe aus. Dann darfst du dir im Wohnzimmer eine DVD ansehen. Such dir eine aus.«

»Ich will nicht«, erwiderte Max und nestelte an den Schuhbändern. »Ich will wissen, bei was Jan Zeuge war.«

»Du tust, was ich dir sage«, sagte mein Vater.

»Na los, Max«, schaltete ich mich ein. »Großvater und ich müssen uns unterhalten.«

»Nein.«

Er konnte so ein sturer, kleiner Kerl sein. Umständlich stieg er aus den Schuhen.

»Max.« Adams Stimme klang tief und autoritär.

Max sprang von seinem Stuhl auf. Aus seinen Augen sprühte Wut, in den Mundwinkeln bebte Zorn, seine Schultern strafften sich vor Empörung. Zehn Jahre alte Energie. Zehn Jahre reine kindliche Auflehnung. Sie musste raus.

Er holte mit dem rechten Fuß aus und kickte einen Schuh aus der Küche in den Flur, der zweite knallte gegen den Türrahmen.

Ich erstarrte.

»Immer muss ich gehen, wenn’s spannend wird«, fauchte er.

»Du bist noch ein Kind«, sagte ich. »Sammle bitte sofort die Schuhe auf.«

Ich sagte nicht, dass ich ihn liebte und ihn nur beschützen wollte oder dass er noch früh genug damit konfrontiert würde, was Menschen einander antun konnten.

»Na und? Jeder ist mal eins gewesen. Und du auch.« Er zeigte mit dem Finger auf mich, drehte sich um und rannte aus der Küche. Im Vorbeilaufen sammelte er die Schuhe auf.

»Es gibt Dinge …«, rief mein Vater hinter ihm her. Doch hinter Max knallte die Tür ins Schloss.

Normalerweise war das der Punkt, an dem ich hinter ihm herrannte und ihm irgendeine Strafe auferlegte. Kein Kino am Wochenende, keine DVD, weniger Taschengeld. So etwas in der Art. Die Wirkung solcher Strafen hielt allerdings nie lange vor, und ich war auch viel zu kaputt, um mich noch weiter mit ihm zu streiten.

Als ich später im Bett lag und über den Tag nachdachte, kam mir mein Verhalten lächerlich vor. Ich hätte es ihm doch erzählen können. Er würde es früher oder später sowieso erfahren. So aber hatte ich ihn behandelt, als wäre er ein dummer Junge.

»Erzähl«, sagte mein Vater, als wir aus dem Wohnzimmer laut den Fernseher hörten. Auch eine Form der Revolte.

Ich begann mit dem Moment, als ich zu Kortner ins Auto gestiegen war. Ich ließ nichts aus. Er hörte geduldig zu, sagte die ganze Zeit kein Wort und zeigte keine Reaktion. Nicht einmal als ich sagte, dass Kortner behauptete, Eddie hätte Charles erschossen. Auch nicht, als ich erzählte, dass Margo ermordet worden war.

Er wandte sich ab und sah stumm aus dem Küchenfenster. Ich betrachtete ihn. Er saß sehr aufrecht. Vielleicht war er, während ich geredet hatte, ein wenig blass geworden. Doch nicht einmal das konnte ich bei dem Zwielicht in der Küche beschwören.

Die Polizeisirene war längst verstummt, von nebenan hörte man lautes Lachen aus dem Fernseher.

Mein Vater kannte keinen Siggi Meier, und es beeindruckte ihn auch nicht, dass der Mann gewusst hatte, wo der Schlüssel lag.

Adam zuckte mit den Achseln: »Es ist nicht gerade das originellste Versteck. Und lass dir ein für allemal sagen: Deine Mutter musste mit ansehen, wie Leo seinen besten Freund getötet hat. Egal, was Kortner dir erzählt hat.«

Ich nahm die Milch und trank einen langen gierigen Schluck aus der Packung. »Hör auf, mir etwas einreden zu wollen.« Es klang aggressiver, als ich gewollt hatte.

»Ich rede dir nichts ein«, sagte mein Vater, »aber vielleicht Kortner. Überleg dir, wem du traust, deinem Vater oder diesem Kommissar, der deinen Bruder schon einsperrte, als er noch nicht einmal volljährig war, und der einem Serienmörder einen Deal anbot, nur weil er eine perfekte Aufklärungsquote wollte. Und überleg dir, warum er es dir jetzt erzählt, wo Eddie sich nicht mehr wehren kann.«

Die Vertrauensfrage. Die Frage aller Fragen. Sie war gekoppelt an Versprechen, erforderte oft Bekenntnisse und manchmal Schwüre. Ich hatte Glück. Ich sollte weder etwas versprechen noch etwas schwören. Ich sollte mich nur bekennen. Doch konnte ich das?

Der Kortner, den ich erlebt hatte, war am Ende gewesen. Ein gebrochener Mann. Weshalb hatte er mich aufgefordert, Leo zu warnen, falls der sich bei mir melden würde? Koslowski hatte vermutet, dass Leo eine Begegnung mit Kortner nicht überleben würde. Kortner, dachte ich, wusste mehr. Die Frage war, ob mein Vater auch mehr wusste, als er zugab.

»Margo hat Charles’ Leiche identifiziert, nicht wahr?«, fragte ich.

»Wer sonst? Andere Angehörige hatte Charles ja nicht.«

»Wer hat erzählt, dass Leo geschossen hat?«

Er massierte sich die Nasenwurzel. »Es war Eddie. Sie kam dazu, als die beiden sich stritten.«

»Worüber haben sie sich gestritten?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Ich glaube, das habe ich Eddie nie gefragt.«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Wann gehen junge Männer wohl aufeinander los? Doch meistens, wenn es um Frauen geht, oder?«

»Und das reichte dir?«

Er sah mich an. »Man kann nicht alles bis in jede Einzelheit zerlegen oder gar verstehen.«

»Hast du Leo danach gesehen?«

»Wie bitte?«

Ich wiederholte meine Frage.

»Er war schon weg, als ich kam«, antwortete er.

»Wo war er?«

Er schüttelte den Kopf. »Julie, was soll das? Meinst du wirklich, Eddie hat dich und mich belogen? Das ist nicht dein Ernst. Ich war ihr Mann, und ich bin euer Vater. Niemals hätte sie mich belogen!«

Ich ging nicht darauf ein. Ich dachte an das, was Koslowski mir erzählt hatte.

»Wo versteckte Leo sich, nachdem es passiert war? Jemand muss ihm bei der Flucht geholfen haben.«

Er zögerte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich und sah so müde aus, als würde er das Gewicht der ganzen Welt tragen.

»Warum habt ihr nie mit mir gesprochen?«, fragte ich.

»Ich hatte doch auch keine Ahnung. Nein, Julie, Eddie hat nicht geschossen«, beharrte er. »Und ich wünsche nicht, dass du weiter so über deine Mutter sprichst. Sie ist erst vor wenigen Tagen gestorben, und jetzt kommt dieser Kortner daher und behauptet, sie habe Charles erschossen und den Mord ihrem eigenen Sohn angehängt? Das ist doch unglaublich.«

»Hast du Leo nach dem Unfall noch einmal gesehen?«, wiederholte ich störrisch.

Mein Vater funkelte mich an. »Ich war in der Praxis. Es war Mittwochnachmittag. Deine Mutter hatte mich angerufen und gebeten zu kommen. Ich war also nicht hier, als es passierte. Das weißt du aber alles.«

Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Was ist?«, fragte ich. »Hast du ihn nach diesem Nachmittag noch einmal gesehen?«

»Nein. Niemand hat ihn je wiedergesehen.«

»Also kannst du gar nicht wissen, ob Kortner lügt oder nicht«, sagte ich.

»Warum sollte Eddie behaupten, dass Leo Charles erschossen hat, wenn es nicht so war?«

»Wie wäre es mit Selbstschutz?«

Mein Vater sah mich an. »Du sitzt in zu vielen Gerichtssälen, mein Kind. Du hast mit zu viel Abschaum der Gesellschaft zu tun. Denk drüber nach. Wir müssen jetzt jedenfalls zur Polizei.«

Sein Ton duldete keinen Widerspruch, als wäre ich plötzlich wieder ein kleines Mädchen. Das gefiel mir nicht.

»Sagt wer?« Ich stand auf und ging zur Spüle.

»Kortner hat angerufen, kurz bevor du gekommen bist. Er bat mich, dich sofort zum Revier zu bringen, wenn du auftauchst.«

»Aha.«

»Er sagte, auf dem Revier sei die Hölle los, seitdem du Margos Leiche gefunden hast. Und dass es da jemanden gibt, der nur darauf wartet, dir und Leo etwas anzuhängen. Und egal, welche Motive Kortner hat, du musst da hin.«

»Hat er wörtlich gesagt, jemand will mir etwas anhängen?«

Adam nickte. »Außerdem bittet er dringend um Diskretion. Niemand sollte von eurem Gespräch erfahren.«

»Dringend?«

»Das sagte er.«

»Aber ich gehe allein.«