15

Das Haus meiner Eltern hatte in den letzten 20 Jahren weder einen Handwerker noch einen Maler noch neue Möbel gesehen, weshalb es mir manchmal vorkam, als sei es seit Leos Tod in einer Zeitschleife gefangen.

Mein altes Zimmer mit der taubenblauen Auslegeware und den hellen Kiefernmöbeln sah noch genauso aus wie an dem Tag, als ich zu Hause ausgezogen war.

Alex und ich setzten uns auf meine Schlafcouch, den Rücken an die kahle Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt.

Ich reichte ihm Koslowskis Ordner.

»Was ist das?«, fragte er und legte ihn sich auf die Oberschenkel.

»Sieh es dir an.«

Ich wollte reinen Tisch machen, also konnte ich auch gleich mit meiner Vergangenheit beginnen. Alex hatte mich nie gedrängt, mehr zu erzählen, als ich wollte, und meine Eltern sprachen nicht über Leo. Er wusste deshalb nicht mehr von mir als die meisten anderen meiner Bekannten: Mein Bruder war im Sommer 1989 verschwunden und nie wieder aufgetaucht.

Ich betrachtete sein konzentriertes Gesicht, als er den Ordner aufschlug.

Ohne aufzublicken, sagte er: »Hör auf damit.«

»Womit?«, fragte ich.

»Mich so anzusehen. Das bringt mich aus dem Konzept.«

»Du bist mein großer Held«, sagte ich.

»Du bist auch ein ziemlicher Knaller.«

»Ja, unwiderstehlich.«

»Soll ich mir jetzt den Ordner ansehen?«

Ich nickte.

»Dann benimm dich jetzt.«

»Ich mache doch gar nichts.«

»Du machst nie was und davon immer eine ganze Menge.«

Ich verdrehte die Augen.

Er konzentrierte sich wieder auf den Ordner, las einige Seiten, überblätterte andere, las erneut. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und ich dachte darüber nach, was ich ihm erzählen wollte.

Als er den Ordner schließlich zur Seite legte, begann ich zu reden.

Ich erklärte ihm, was Koslowski mit meiner Familie und Leo mit Claudia zu tun hatte. Und dann erzählte ich ihm den ganzen Rest der Geschichte und wie sehr ich es vermisst hatte, jemandem vertrauen zu können und in mein Leben zu lassen.

»Danke für dein Vertrauen«, sagte er, als ich endete, und ich konnte nichts dagegen tun: Ich weinte los.

»Ich möchte dich etwas fragen.«

Ich putzte mir die Nase und sah ihn von der Seite an.

»Du liebst ihn noch, nicht wahr?«

Diese Frage! Ich hatte sie erwartet, und ich hatte mich vor ihr gefürchtet.

»Wen meinst du?«, fragte ich unsicher.

»Deinen Bruder.«

Ich nickte. Erbarmen, dachte ich. Hab Erbarmen mit mir.

»Und Charles.«

Es war keine Frage.

Etwas zersprang in mir und hinterließ einen Spalt von der Größe des Grand Canyon. Ich wandte mich ab.

Mein Blick fiel auf ein Foto, das Eddie bei meiner Einschulung aufgenommen hatte: Leo und ich stehen vor dem imposanten Eingangsportal der Schule, einem dunkelroten Backsteingebäude im neugotischen Stil mit spitzen Türmen und weißen Fensterkreuzen. Leo hat den Arm um mich gelegt, während ich eine riesige hellblaue Schultüte mit aufgedruckten bunten Schmetterlingen trage und strahlend zu ihm aufblicke. Es war eine Zeit der Unschuld, und ich ahnte damals nicht, dass mir nur wenige Jahre mit ihm blieben.

»Julie.«

Alex berührte mich am Kinn und drehte meinen Kopf zu sich.

»Ja«, sagte ich und sah ihm in die grauen Augen, »ja, natürlich liebe ich Leo und Charles, und ich werde sie immer lieben.«

Etwas ging in seinen Augen vor. Sie sahen aus wie gesprungenes Glas, und er sah mich an, als hätte ich ihn geschlagen. Warum ich so etwas sagte? Weil es die Wahrheit war. Aber wollte man die Wahrheit immer wissen? Sollte man sie jedes Mal kennen? Hielt man sie wirklich immer aus?

»Dann hast du bestimmt auch eine Schatztruhe voller Erinnerungen und Briefe im Keller oder auf dem Dachboden, nicht wahr?«

Ich musste nicht antworten. Er sah es mir an.

»Und jedes Jahr an seinem Todestag holst du sie hervor …«

Ich schüttelte den Kopf.

»… liest sie und bist für niemanden sonst zu …«

»Nein«, unterbrach ich ihn. »Hör auf damit. Charles ist tot. Und wir beide sind hier.«

»Und wenn er nicht tot wäre?«

»Dann hätten wir uns nie kennen gelernt.«

Die Wahrheit. Mal wieder. Weshalb war ich so gnadenlos? Wieso konnte ich ihm nicht die Gnade einer Lüge gewähren? Ich spürte seinen Blick so intensiv und forschend auf mir, als wäre ich ein fremdes Insekt, das an einem Ort aufgetaucht war, an dem man es nie erwartet hätte.

Ich war erschöpft von dem Tag, müde von der Fahrerei, noch immer aufgewühlt von der Begegnung mit Koslowski und mit Margo auf dem Friedhof. Zu allem Übel machten sich die Kopfschmerzen bemerkbar.

Alex sah mich immer noch an – und dann traf mich ein Schock.

»Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme, mich ständig mit einem Toten vergleichen zu lassen.«

Er sagte es ganz ruhig, ohne jede Emotion, und das war das Schlimmste.

Ich konnte nichts darauf erwidern.

Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht geschah das, auch wenn ich es nicht wollte. Vielleicht …

Ich schüttelte den Kopf. Es war nicht okay. Gar nichts war hier okay. Ich wollte ihm heute erzählen, dass er Vater würde, dass ich eine Familie mit ihm gründen wollte – und jetzt das.

Die Situation war absurd.

Alex erhob sich vom Bett. »Lass uns essen gehen.«