XXXV.

 

Ich hörte seine raue Stimme, seine eindeutigen Worte ... Emilys Hilferuf, ihre erstickten Schluchzer.

Ich spürte seinen heißen Atem, seine schwielige Hand an ihrem Oberschenkel, die andere auf ihrer Wange ... Emilys Schockstarre, ihre überschwappende Panik.

„Nein!“, rief ich laut aus, schlug mir jedoch sofort die Hand über den Mund und zog dann faustweise an meinen Haaren.

Denke, Noah, denke! Schnell, verdammt!

Ich stand auf dem Bürgersteig neben einem dieser Backsteingebäude und hatte keine Ahnung, ob sich Emily unmittelbar hinter diesem Gemäuer oder einem der anderen befand. Ich ahnte lediglich, dass sie irgendwo in diesem heruntergekommenen Gebäudekomplex aneinandergereihter Lagerhallen steckte ... Und diese Information musste ausreichen. Panisch fixierte ich das Dach über mir und landete gewohnt sanft und lautlos darauf. Sofort richtete ich mich auf, tauchte hinter der kleinen Brüstung auf, und trampelte aus einer Art Intuition heraus so laut ich nur konnte über die flachen Dächer. Ich lief immer weiter, übersprang die kleinen gemauerten Begrenzungen zwischen den Dächern wie Hürden in einem Lauf und trat immer wieder so heftig auf, wie ich nur konnte. Emily entließ ich dabei nicht für den Bruchteil einer Sekunde aus meinem Bewusstsein.

Der Bastard war inzwischen dabei, ihr Kleid hochzuschieben. Ich schrie ihn im Geist an, so laut ich nur konnte: Du nimmst deine widerwärtigen Finger von ihr, sofort! Wage es ja nicht, sie anzufassen! Ich schwöre, wenn du sie berührst ...

In meiner Verzweiflung trat ich mit voller Kraft gegen ein rostiges Metallfass, das mitten auf dem letzten Dach des Gebäudekomplexes stand. Das blecherne Scheppern hallte doppelt laut in meinem Kopf wider. Ehe ich begriff, warum, spürte ich, dass Emily zusammenfuhr.

„Was ...?“, fragte der Sicherheitsmann und ließ von ihr ab. Er erhob sich, und sobald er einige Meter zurückgestrauchelt war, atmete Emily tief durch.

War das auf unserem Dach?“, fragte nun auch der Chauffeur, den das laute Scheppern offenbar geweckt hatte.

Wahrscheinlich nur der Wind“, mutmaßte der Sicherheitsmann, klang aber nach wie vor ein wenig irritiert. „Kann ja nicht anders sein“, fügte er nach einer Weile hinzu, als wollte er sich selbst beruhigen.

„Warum schläfst du nicht? Und ... was machst du bei der Kleinen? ... Warum sieht sie so panisch aus, Paul?“, hakte der Fahrer nach; sein Tonfall wurde von Frage zu Frage skeptischer und lauter.

„Scheiße, Brad, ich hatte nur Durst. Seit wann bin ich dir Rechenschaft schuldig?“

Ich hörte die Stimmen der beiden, als hätte man sie mit einem leisen Echo unterlegt. Der Anflug eines triumphalen Gefühls überkam mich, als ich realisierte, dass die Männer unter mir waren. Direkt unter mir. Ich konnte sie durch die Decke der Lagerhalle hören – und der Widerhall, den ich vernahm, entsprang Emilys Gedanken. Sie war hier, so nah.

Die Euphorie, mein Mädchen endlich gefunden zu haben, mischte sich mit der Erleichterung, dass dieser Mistkerl von Sicherheitsmann seinen perversen Plan hatte fallenlassen müssen. Emily war nichts geschehen – und das würde sich nun, wo ich endlich bei ihr war, auch nicht mehr ändern. Niemand würde ihr etwas antun; alles würde gut werden, dessen war ich mir für die Länge eines sehr überfälligen, tiefen Atemzugs sicher.

Doch dann bog ein einsamer Wagen in die lange Straße ein und verlangsamte seine Fahrt zunehmend, je näher er dem alten Gebäude kam, auf dessen Dach ich mich beim ersten Aufblitzen der Scheinwerfer schnell niedergekauert hatte. Der starke, kühle Nachtwind ließ das Metallfass, das ich umgestoßen hatte, auf dem Dach hin und her rollen; rostig-ölige Flüssigkeit suppte bei jeder Umdrehung aus der kleinen Öffnung und bildete eine stinkende Pfütze auf dem Beton.

Unter mir klingelte ein Handy, nur einmal.

„Jim ist da. Öffne das Tor!“, schnauzte der Sicherheitsmann seinen Komplizen an, der sich postwendend in Bewegung setzte, die Halle verließ und das blickdichte, hohe Metalltor zum Hof der Lagerhalle öffnete. Die Scharniere quietschten ohrenbetäubend durch die Stille der Nacht, sie brüllten förmlich nach Öl.

Über die gemauerte Begrenzung des Flachdaches hinweg, lugte ich vorsichtig nach unten in den Hof. Ein dunkler Kombi fuhr durch das Tor, der Chauffeur öffnete die Fahrertür. „Jim, hi!“, begrüßte er den vermeintlichen Drahtzieher der Entführung mit deutlichem Respekt in Stimme und Haltung.

Dann, endlich, stieg er aus, dieser mysteriöse Jim ... und gab eine ganz und gar nicht mysteriöse Figur ab. Er war nicht sehr groß, hatte einen leichten Bauchansatz und trug Vollbart. Der erste Eindruck, den ich von ihm gewann, war alles andere als angsteinflößend. In seinem Anzug und dem blütenweißen Hemd, das in meinen Augen förmlich durch die Nacht strahlte, wirkte er wie der nette, seriöse Banker von nebenan. Abgesehen davon, konnte ich mich des Eindrucks nicht verwehren, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben ...

„Brad!“, begrüßte er seinen Mann und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge! Sehr gut. In einer halben Stunde bekommst du deine Belohnung. Dann hast du für alle Zeiten ausgesorgt. Und jetzt bring mich zu Daves Mädchen.“

Brad nickte hastig und setzte sich stumm in Bewegung, während Jims Worte bei mir nachwirkten. Etwas an der Art, wie er Daves Mädchen gesagt hatte, störte mich ganz ungemein. Er sagte es so, als würden er und Emilys Dad sich kennen. Ja, beinahe so, als wären sie Freunde. Abgesehen davon sprach er mit einem starken englischen Akzent. Ähnlich wie Em und ihre Familie.

Der Sicherheitsmann, den ich nur über Emilys Gedankenfetzen wahrnahm, zerrte derweil an ihr herum und setzte sie aufrecht auf ihre Holzkiste. Grob fegte er die einzelnen Haarsträhnen, die sich aus ihrer eleganten Frisur gelöst hatten, aus ihrem Gesicht und streifte sie hinter ihre Ohren zurück, als wollte er Jim auf den ersten Blick beweisen, dass sich Emily in einem tadellosen Zustand befand. Einwandfreie Ware, ordnungsgemäß übergeben. Dieser Typ widerte mich zunehmend an.

Em weinte. Still und erschöpft gewährte sie dem Fluss ihrer Tränen freien Lauf. Ungehindert lief das warme, salzige Nass aus ihren Augen. Sie zitterte, ihre Beine schmerzten, und in ihren Handgelenken, die unter den Fesseln eingeschlafen waren, prickelte es wie durch tausend kleine Nadelstiche. All das fühlte ich mit ihr, ebenso wie ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit. Allerdings wurden die Eindrücke immer wieder unterbrochen, wie die Geräusche einer instabilen Telefonverbindung. Mein armes Mädchen war so erschöpft. Em wollte mich zwar eindeutig teilhaben lassen, schaffte es aber kaum noch, ihre Gedanken ausreichend zu bündeln und zu fokussieren.

Jim lief neben Brad her; mit großen Schritten näherte er sich Emily und dem Sicherheitsmann, der den Weg mit seiner Taschenlampe ausleuchtete. Sobald sie die Halle betraten, sah ich die beiden Männer nur noch als schwarze Silhouetten – durch Emilys schwimmende Augen, mit denen sie vergeblich versuchte, in dem fahlen Licht mehr als nur das zu erkennen. Noch einmal rief sie nach mir und flehte mich an, ihr doch endlich zu helfen. Es brachte mich beinahe um den Verstand, dass sie meine Nähe nicht spürte. Andererseits stellte ihre direkte Ansprache zumindest kurzfristig eine ununterbrochene Verbindung zwischen uns sicher.

Als sich in der schwarzen, tränenertränkten Silhouette des unscheinbaren Mannes vage Konturen abzeichneten und seinem Gesicht erste Züge verliehen, hielt Em plötzlich die Luft an, vergaß für einen Augenblick zu weinen und gab ein erstes, halbersticktes Geräusch von sich. Im selben Moment riss unsere Verbindung ab ...

„Zieh ihr das Klebeband ab, Paul!“, befahl Jim, ohne den Sicherheitsmann zuvor zu begrüßen. Ich hörte seine Stimme nun nur noch sehr leise, aber Gott sei Dank hatte Emily sich von ihrem ersten Schock erholt und bezog mich nur einen Wimpernschlag später schon wieder mit ein.

„Sie wird nicht schreien, dafür ist sie zu clever“, fügte Jim unter einem fiesen Grinsen hinzu und entsicherte im selben Moment eine Pistole, die er bis dahin hinter seinem Oberschenkel versteckt gehalten hatte. Der bullige Paul lachte hämisch, während er mit einem einzigen Ruck das Klebeband von Emilys Mund zog. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, beinahe so, wie durch einen Schnitt. Die weiche Haut ihrer Lippen gab nach und riss an mehreren Stellen zugleich ein. Reflexartig fuhr sie mit der Zunge über ihre Unterlippe ... und schmeckte Blut.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten; ich kniff Mund und Augen fest zusammen, um vor Wut und Verzweiflung nicht laut loszuschreien.

Du?“, presste Emily hervor, die schockgeweiteten Augen auf Jim gerichtet.

Was, du kennst ihn, Baby?

Jim lachte. „Ja, ich. Wetten, dein Vater wird ähnlich ungläubig schauen wie du? Zu schade, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, wenn ich ihn nachher anrufe.“

„Aber du ... du bist ...“, stammelte Emily und ließ den Satz unvollendet verhallen. Sie war so verdutzt, dass sie unseren Kontakt erneut fallenließ. Sofort brachen sämtliche Bilder und Stimmen weg. Schnell legte ich mich flach auf das Dach und presste mein Ohr auf den kalten Beton, um nichts zu verpassen. Jim lachte schallend, er schien sich königlich zu amüsieren.

„Was? ... Was bin ich, hm? Ein Freund, ein Kollege, eine unverzichtbare Hilfe? Der treue Kameramann, der es nach kaum mehr als sechzehn Jahren Zusammenarbeit mit deinem Vater geschafft hat, sich unter ihm zum Regieassistenten hochzuarbeiten? Was, oder besser, wer bin ich genau, kleine Emily? ... Wie auch immer, ich bin jedenfalls nicht der, für den mich dein Vater hält. Denn ich bin nicht der unscheinbare Mann, der weiterhin und für alle Zeiten in seinem Schatten stehen und dort verharren wird.“

Was, ein Kollege? ... Em, bitte, sprich mit mir!

Nun, zumindest hatte sie sich während Jims kurzem Monolog so weit gefasst, dass sie mich wieder teilhaben ließ. „Noah, schau!“

Und so sah ich, wie gebieterisch Jim im nächsten Moment seine Hand hob, als Emily etwas erwidern wollte. Er schüttelte den Kopf, sein Lächeln verzog sich nur leicht, verlor dabei jedoch jeglichen Ansatz von Wärme. Seine Augen blitzten eiskalt und sehr, sehr düster auf.

Und plötzlich wusste ich als Einziger, was weder Emily, noch Paul oder Brad ... ja, nicht einmal Jim selbst, ahnten. Schlagartig wurde mir klar, welche Macht sich seiner bemächtigt hatte, gegen wen ich hier kämpfen sollte. Nie zuvor war ich einem finstereren Blick als Jims begegnet. Nicht einmal Doug hatte mich dermaßen hasserfüllt angeschaut. Es wunderte mich zutiefst, wie tapfer Emily dieser Intensität trotzte, ohne ihr auszuweichen.

„Es ist an der Zeit, deinem Vater eine Lektion zu erteilen und der Welt zu zeigen, wer von uns beiden der eigentlich große Regisseur ist“, erklärte Jim. „Und auf diese Weise wird mein Name endlich gleichwertig zu seinem genannt werden – ganz automatisch. Denn wann immer die Sprache zukünftig auf den großen David Rossberg kommt, wird mein Gesicht und mein Name mit ihm, mit seinen Werken und seinem Schicksal verknüpft sein. Unabwendbar. So, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Aber die Realität sieht anders aus, nicht wahr? Er flaniert über den Roten Teppich, sein Name steht auf den Filmplakaten, er ist im Four Seasons untergebracht. Und ich ...“

Der trübe Schleier, der sich nun über Jims Blick legte und ihn erneut den Kopf schütteln ließ, jagte mir eine Höllenangst ein. Buchstäblich.

Aber ab dem heutigen Tag wird sich alles ändern“, fuhr Jim fort. „Ich werde in gewisser Weise mit Dave verschmelzen. Und du, kleine Emily, wirst mir dabei behilflich sein. ... Paul, Klebeband!“

Sofort trat der stämmige Sicherheitsmann zurück in Emilys Sichtfeld, das nun von neuen Tränen geschwemmt wurde. Sie erzitterte am ganzen Leib, als ihr dieser Paul erneut den Mund verklebte.

„Noah, bitte!“, flehte sie stumm. „Wo bist du? Dieser Irre ... ich weiß nicht, was er vorhat. Aber ... es geht ihm nicht um das Lösegeld, Noah. Es ist ... eine Art privater Rachefeldzug. Er will öffentliche Aufmerksamkeit und vor allem Ruhm, egal welcher Art. Die Menschen sollen endlich erfahren, wer er ist.“

Ja, all das hatte ich auch genauso verstanden. Und die Erkenntnis hatte mich in eine Art Schockstarre versetzt, aus der ich mich erst in diesen Sekunden wieder befreien konnte. Ich wollte Emily in meine Arme schließen und ihr versichern, alles würde gut werden. Aber Fakt war, dass ich noch immer auf diesem verdammten Dach hockte, während sie unmittelbar vor Jims gezückter Waffe stand.

Während ich mich über das Dach beugte und den schmalen Hinterhof der Lagerhalle anpeilte, blitzschnell dort auftauchte und verzweifelt nach einem Zugang auf dieser Seite des Gebäudes suchte, den es nicht gab, hörte ich, dass Jim die beiden Männer anwies, sein Auto zu nehmen. Vermutlich, um zu dem vereinbarten Ort der Lösegeldübergabe aufzubrechen. Mein Fokus lag nicht mehr auf den beiden, sie waren nichts weiter als Jims Handlanger gewesen. In Bezug auf Emilys Sicherheit spielten sie keine weitere Rolle.

Zurück auf dem Dach, hörte ich im Innenhof den Motor des Wagens starten; kurz darauf passierte er erneut das metallene Tor, das Jim hinter den Männern schloss aber nicht verriegelte. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Nun war er allein mit Em und konnte seinem eigentlichen Plan nachgehen – wie auch immer der aussah.

Emily, die allein auf ihrem Lager zurückgeblieben war, nutzte die Zeit, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie schluchzte unter dem breiten Klebeband und unternahm zum ersten Mal einen hoffnungslosen Versuch, ihre Handfesseln zu lockern. Sie war so verzweifelt, so aufgelöst, dass ich es kaum noch aushielt, das so hautnah und doch hilflos mitzuerleben.

Jim kam zurück, bedachte sie im Vorbeigehen mit einem flüchtigen Lächeln, das ihr und mir eisige Schauder über die Rücken jagte, und steuerte dann zielsicher auf eine der großen Holzkisten zu, die im hinteren Teil der Halle standen. Emily beobachtete jeden seiner Schritte ängstlich, innerlich bebend. Ihn fürchtete auch sie über alle Maßen, so viel stand fest.

Jim hob den Deckel der Kiste ab und entnahm ihr eine riesige Röhre. Erst durch Emilys Gedanken erkannte ich, worum es sich handelte.

Ein Spotlight, Noah.“

Jim holte auch einen großen Ständer aus derselben Kiste und baute das Teil mit geschickten Handgriffen am entgegengesetzten Ende der Halle auf, unmittelbar neben dem Eingang. Em ließ ihn nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Beobachtete mit Schrecken, wie routiniert er sich daran begab, die riesige Leuchte zu verkabeln und auf die Mitte der Halle auszurichten. Jim pfiff und schien die Ruhe gepachtet zu haben, während Emily und ich uns voller Furcht fragten, was – in Gottes Namen – er im Sinn führte.

„Lasst Gott da lieber raus, Junge!“

„Michael, gibt es diese Gegenseite wirklich? Kämpfen wir nicht nur gegen Jim, sondern gegen ...“ Ich wagte es nicht, weiterzusprechen.

„Dieser Kampf währt schon so lange wie ich denken kann“, erwiderte Michael traurig. Auch wenn ich die großen Zusammenhänge noch längst nicht begriff, war mir die Schwere seiner Worte Bestätigung genug.

Die Kiste war inzwischen leer. Jim öffnete eine zweite und zog eine dicke, rote Rolle hervor. Emily und ich tappten für einige Sekunden im Dunkeln, erkannten nicht, was es mit dieser Rolle auf sich hatte, bis Jim sich erneut dem Eingang näherte und sie vor der schweren Metalltür ablegte. Dann verpasste er ihr einen kräftigen Tritt und entrollte somit ... einen roten Teppich, der dem glich, über den Emilys Vater wenige Stunden zuvor, bei der Premiere seines Films, geschritten war.

Jim lächelte zufrieden, während Emily – und damit auch mich – ein frostiges Gefühl packte und durchschüttelte. Als er den Deckel einer dritten Kiste liftete, traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag:

Eine Kamera. ... Dieser Mann ist vollkommen durchgedreht. Er ist verrückt.

„Er inszeniert das ganze Ding, Noah“, erreichten mich Emilys Gedanken nur einen Augenblick später. Ihre imaginäre Stimme bebte, war kaum mehr als ein banges Flüstern.

Jim zog die große Kamera hervor und begann auch sie zu verkabeln. Dann trug er die leere Kiste neben den Eingang, platzierte sie vor dem Spotlight und legte die Kamera darauf ab.

Ja, du hast recht, Emily. Er legt sich alles schön säuberlich zurecht. Dieser Mann ist wahnsinnig, ein Psychopath.

Das war der Moment, in dem meine Entscheidung fiel. Spät, unverzeihlich spät.

Ich brauche Hilfe. ... Verstärkung.

Wie sollte ich – vollkommen unbewaffnet und anatomisch betrachtet nicht gerade der Stärkste – diesem Verstörten gegenübertreten und Emily retten?

Unmöglich! Zwar könnte mir Michael vielleicht auch zu körperlicher Kraft verhelfen ... 

„Und ob!“

Dachte ich mir! Aber kugelsicher wird mein Körper deshalb noch lange nicht.

„Ich bedaure, nein.“

Jims offensichtlicher Irrsinn machte ihn so gefährlich und absolut unberechenbar. Emily stellte nichts weiter als eine weitere Marionette für ihn dar – wie so viele andere bereits vor ihr.

Nein, die Cops müssen eingeweiht werden, sofort.

Mit zittrigen Händen zückte ich mein Handy, doch dann wurde mir klar, dass ich nicht telefonieren konnte. Einige der kleinen Fensterscheiben waren zersprungen, und es war zumindest nicht ausgeschlossen, dass mich Jim hören würde. Mein Handy hatte ich schon lange, unmittelbar nach Adrians letztem Anruf, lautlos gestellt.

Also eine SMS.

Ja, ich würde Adrian mitteilen, wo ich mich befand. Er konnte die Cops benachrichtigen. Problem Nummer zwei: Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Wie lautet die gottverdammte Adresse?

„Noah ...“

Michael! Lass mich fluchen, zum Henker! Das ist die mit Abstand beschissenste Situation, in der ich mich jemals in meinem verfluchten Leben befunden habe. Scheiße, Mann! Und jetzt raus aus meinem verdammten Kopf!

„Nicht, bevor ich dir die Adresse genannt habe, Hitzkopf!“

Woher auch immer er sie kannte, er sagte sie mir. Wieder ließ ich meine Finger über das Display meines Handys fliegen. Kurz und prägnant schilderte ich Adrian, wer Ems Entführer war und dass er sich mit ihr in der letzten Halle dieser Stichstraße verschanzt hatte.

Gerade hatte ich den Senden-Button gedrückt, da hörte ich Jims Stimme unter mir – mit dem leisen Echo, das Emilys treue Gedanken erzeugten.

„David, hallo! ... Ja, ich bin es, Jim. ... Ja ... Nein, ich weiß, du bist gerade beschäftigt. Lösegeldübergabe, richtig?“

Das fiese Grinsen dehnte sich mit den letzten Worten erneut über sein Gesicht, während er auf Emily zuging, die ängstlich auf ihrer Unterlage zurückwich. Meine Fäuste ballten sich erneut, als ich ihre Panik zu spüren bekam. Jim fackelte nicht lange. Er griff mit seiner freien Hand in ihre hochgesteckten Haare – und zerrte sie kraftvoll zu sich.

„Nun, Dave, ich dachte nur ...“

In diesem Moment löste er das Klebeband über Ems Mund so ruckartig, dass es die ohnehin schon geschundene Haut ihrer Lippen stellenweise mit sich riss. Ihr Schmerz ging mir durch Mark und Bein und entlockte Emily einen spitzen Aufschrei.

„... es würde dich vielleicht interessieren, dass ich deine Kleine habe“, beendete Jim seinen Satz mit triumphierender Miene. Das Entsetzen, das in Davids Reaktion – wie auch immer die ausfiel – lag, genoss er offensichtlich in vollen Zügen. Sein Grinsen zog sich nun noch breiter als zuvor; grob stieß er Emily von sich und wandte sich ab.

„David, überleg, was du sagst“, forderte er in überheblicher Gelassenheit. „Nicht ich höre, was du sagst, mein Freund. Dieses Mal hörst du genau zu, was ich dir zu sagen habe. Also, hier sind die Regeln: Ihr lasst die Männer gehen. Sie bringen euch sowieso nichts, haben keinen Schimmer, was ich vorhabe. Keiner folgt ihnen, niemand lauert ihnen auf. Stattdessen stattet ihr mir und deiner Kleinen einen Besuch ab. Wie ich vermute, habt ihr den Anruf inzwischen zurückverfolgt, nicht wahr? Nun, dann wisst ihr ja, wo wir stecken. Bring mit, wen du willst, David, aber du gehst voran. Du wirst – so, wie es dir gebührt – der Erste sein, der den Festsaal betritt und über den Roten Teppich schreitet. Also, ich erwarte dich in zehn Minuten, David. Länger braucht ihr nicht, lasst mich nicht warten!“

„Nein, Dad, tu es nicht!“, rief Emily voller Panik.

Jims Gesichtszüge entgleisten, als er sich ihr ruckartig zuwandte. Mit nur drei großen Schritten war er wieder bei ihr. „Du hast deine Tochter nicht gut erzogen“, zischte er in sein Handy. Seine ohnehin schon schmalen Augen waren nur noch Schlitze. Schlitze, die unter seinen Worten wütend aufblitzten. Sein Unterkiefer schob sich nach vorne, die bärtige Kinnpartie zuckte verbissen. Ehe Emily oder ich es kommen sahen, holte er aus und schlug ihr mit dem Handrücken und einer Wucht, die sie einfach rücklings umknicken ließ, ins Gesicht.

Das klatschende Geräusch und der scharfe Schmerz durchzuckten mich empfindlicher, als hätte er mich selbst geschlagen. Und David, der ebenso Zeuge geworden war wie ich, ging es da offenbar nicht anders.

„Hör auf so jämmerlich nach deiner Tochter zu rufen!“, brüllte Jim, der seine Ruhe und die aufgesetzte Gelassenheit von einer auf die andere Sekunde eingebüßt hatte. „Gott, bist du ein kläglicher Verlierer. Und jetzt setz deinen Hintern in Bewegung! Ich. Erwarte. Dich. David.“

Damit legte er auf.

Nur eine Sekunde später beugte er sich über Emily. Sein schweißbenetztes Gesicht kam näher und näher, und meine Hände ballten sich unter dem Bild so stark, dass es bis in meine Unterarme hinein schmerzte.

„Danke für die spektakuläre Showeinlage, Kleines. Sehr effektvoll!“, wisperte Jim mit einem breiten Grinsen. „Du hast die Rolle, denke ich.“

Emily saugte an ihrer blutenden Unterlippe, kämpfte energisch gegen die unkontrollierbaren Schluchzer an, die sie immer wieder sporadisch durchzuckten, und kniff ihre Augen so fest wie nur möglich zusammen. Sie folgte einem Instinkt. Schaltete Sinne aus, die ihr das Ertragen der Situation unmöglich gemacht hätten.

„Noah, du bist nicht da.“ Ihre mentale Stimme klang in der Dunkelheit wie ein verzweifeltes Gebet. „Ich dachte, du wärst da. Ich dachte, du würdest mich hören. ... Aber mein Dad wusste nichts. Gar nichts. Wie kann das sein? Du hörst mich nicht, oder? ... Gott, du hörst mich nicht.“

Ihre Wange brannte, das arme Herz trommelte wild gegen den Brustkorb, der Atem kam und ging – hastig und flach –, ohne wirklich hilfreich zu sein. Emily stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Wie gut ich dieses Gefühl doch noch kannte.

Dennoch, ihren Zweifeln zum Trotz, hielt sie tapfer den Kontakt, richtete ihre Fragen und Vorwürfe weiterhin direkt an mich. Ich war wie ein Strohhalm in reißenden Fluten, an den sie sich noch immer klammerte. Weit und breit die einzige vage Hoffnung auf Rettung. Wie kam es dann, dass ich mich so unglaublich hilflos fühlte?