XXXIII.

 

Emily wehrte sich, es konnte nicht anders sein. Ihr Unterbewusstsein wehrte sich gegen diese unfreiwillige Betäubung, kämpfte unbeugsam dagegen an. Immer wieder empfing ich winzige Gedankensequenzen ... neblig, verschwommen und viel zu kurz, als dass ich sie hätte fassen können. Es machte mich verrückt, nicht zu wissen wo sie war.

Seit der Party bei uns zu Hause war es das erste Mal überhaupt, dass ich keine Ahnung hatte, wo Emily war. Selbst davor schon, in der Schule, hatte ich stets nach ihr Ausschau gehalten, sie immerzu geortet. So still und unscheinbar sie auch gewesen sein mochte, sie hatte dennoch vom ersten Tag an meine Neugier geweckt.

Mittlerweile saß ich in einem der gelben Taxis und fuhr durch den Midtown-Tunnel, den Emily vor exakt 24 Minuten passiert hatte.

24 Minuten, bei einem Tempo wie diesem, das ergab einen möglichen Radius von ... Nein, so kam ich nicht weiter!

Ich wusste schließlich nicht einmal, ob sie inzwischen angekommen waren oder ob sie noch immer fuhren.

Der ahnungslose Taxifahrer pfiff vor sich hin und plauderte von Zeit zu Zeit in seinem mexikanischen Akzent auf mich ein. Sinnfreies Geplänkel, auf das ich nicht ein einziges Mal einging, was ihn auch nicht weiter zu stören schien. Er hatte nur ein wenig verhalten geschaut, als ich mit einem „Durch den Midtown–Tunnel!“ zu ihm eingestiegen war.

„Okay. ... Und wie lautet ihr Ziel?“

„Ähm ... Fahren Sie durch den Tunnel, dahinter muss ich mich umsehen.“

„Okaaayyy?!?“

Seitdem quasselte er ununterbrochen davon, wie er sich gefühlt hatte, als er vor fünfzehn Jahren das erste Mal nach New York gekommen war. Dass er sich die Straßenbezeichnungen damals auch nicht hätte merken können. Tja, und jetzt wäre er schon seit sechs Jahren Taxifahrer ... und so weiter.

Er war freundlich, sicher, aber diese Art von Smalltalk war das Letzte, was ich in diesen Minuten brauchte. Also blendete ich ihn aus und lehnte meine Schläfe gegen das kühle Seitenfenster, bis wir den Tunnel passiert hatten. Keine weiteren Bilder, keine Geräusche, keine Gefühlsregungen erreichten mich. Ich war blind, taub, gefühllos – genau wie Em selbst, vermutlich.

„Also, wohin? Abfahrt oder Interstate?“, fragte der Mexikaner schließlich. Verdutzt sah ich mich um; der Tunnel lag hinter uns. „Nein, bitte fahren Sie ab und lassen mich raus.“

Aber ... wo wollen Sie denn hin? Ich kann Sie doch fahren.“

„Nein, ich gehe zu Fuß weiter, danke.“

Er zuckte mit den Schultern, nahm die Ausfahrt und fuhr gerade so weit, bis wir eine Straße mit Bürgersteig erreichten. Wir hielten am Rande eines Industriegebiets, wie es schien umgeben von Firmen und Fabriken. Der Verkehr hier war sehr überschaubar, die Bürgersteige menschenleer und verschmutzt. Der kräftige Wind blies Plastiktüten, Getränkedosen und Pappstücke von einer auf die andere Straßenseite. Eine wahrhaft trostlose Gegend.

Gerade als ich dem Fahrer eine 50-Dollar-Note gereicht hatte und ihm sein Trinkgeld zusprechen wollte, durchzuckte mich ein neuer von Emilys Gedanken. „Noah, ich ...“

Nur das. Kaum mehr als mein Name, aber immerhin – es war ein Anfang.

„Behalten Sie den Rest!“, rief ich, warf die Autotür vor dem erstaunten Gesicht des Taxifahrers zu und wandte mich ab.

„Nicht wieder einschlafen, bitte“, wisperte ich. „Em, bitte, bitte ... zeig es mir! Zeig mir, was du siehst, Baby! Ich finde dich.“

Und, als hätte sie mich gehört, erreichten mich nur Sekunden später neue Eindrücke.

„Zwei Männer. ... Der Sicherheitsmann ... und ... der Fahrer, der uns zum Kino gebracht hat, denke ich“, erklärte sie mir schwach und brachte damit eine neue Welle der Wut ins Rollen. „Dieser heuchlerische Bastard!“, entfuhr es mir auf offener Straße, während ich krampfhaft versuchte, etwas zu erkennen. Allerdings flimmerte Emilys Sicht so stark, dass die Bilder wie die Aufnahmen einer uralten Super-8-Kamera wirkten – nur mit eingeschränktem Sichtfenster ... in extrem schlechten Lichtverhältnissen.

Ich erkannte so gut wie nichts, so sehr ich mich auch bemühte. Mit einem starren Blick, der mir vermutlich einen irren Gesichtsausdruck verlieh, stand ich am Straßenrand und raufte mir mit beiden Händen die Haare. Die Sekunden verstrichen stumm und ließen mich in meiner steigenden Verzweiflung versinken.

Nie zuvor war mir mein Herzschlag so zuwider gewesen, wie in diesem Moment. Emily strengte sich unglaublich an, das spürte ich. Und sie tat mir so leid, dass mein Herz sich eigentlich schmerzhaft hätte zusammenziehen und aus meiner Brust springen müssen. Tat es aber nicht. Es klopfte unbeirrt weiter, so sehr ich auch innerlich zusammenbrach. Hinter meinen Augen brannten Tränen, die ich mir nicht zu vergießen gestattete.

Wage es nicht zu heulen, bevor du sie in deinen Armen hältst!“, gebot ich mir laut und strengte mich daraufhin noch stärker an, brauchbare Hinweise aus Emilys Kopf zu picken. Den Gedanken, ob es überhaupt jemals wieder dazu kommen könnte, sie in meinen Armen zu halten, verbannte ich beim ersten Aufflackern. Wenig später brachen alle Bilder und Geräusche ab und wichen tiefer Dunkelheit und Stille. Em war mir entglitten – und ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor. Mein Atem ging flach und schnell. Ich rannte auf dem Bürgersteig auf und ab, wusste nicht wohin ... aber stehen zu bleiben erschien mir als die schlimmste aller Alternativen.

„Noah, ruhig!“, meldete sich Michael wieder. „Geduld! Hast du nicht gemerkt, dass sie dieses Mal schon viel länger durchgehalten hat? Sie kommt zu sich.“

Ich wollte ihn anbrüllen, ihm die Schuld für meine Verzweiflung geben und ihn am liebsten so lange schütteln, bis er sich für alle Zeiten aus meiner Existenz raushalten würde. Aber dann wurde mir klar, dass das, was hier gerade geschah, nicht Michaels Schuld war. Und dass er der einzige Freund war, der mir hier – inmitten dieser fremden Stadt und dieser alles entscheidenden Situation – geblieben war. Michael bildete die einzige vertraute Komponente, die einzige Zuversicht, den einzigen Hoffnungsschimmer in dieser anbrechenden Nacht.

Die plötzliche Erkenntnis hielt mich davon ab, an Ort und Stelle die Nerven zu verlieren und durchzudrehen. Stattdessen übte ich mich im Flehen: „Bitte, Michael, hilf mir! Ich weiß nicht weiter. Siehst du denn nicht, dass ich scheitern werde? Wenn sie ihr etwas antun, sie berühren ... Michael, ich schwöre ... Sie könnten das genau jetzt tun, und ich wäre nicht einmal in ihrer Nähe.“

Nein, Noah, du scheiterst nicht. Im Gegenteil. Du machst das ganz fantastisch. Und wenn Emily dich jetzt bräuchte, wärst du da, dessen bin ich mir sicher. Aber es ist noch nicht an der Zeit.“

Wie meinst du das, ich wäre da? Ich weiß doch nicht einmal, wo sie ist.“

„Das spielt keine Rolle“, beharrte er. „Eure Verbindung steht. Und keine war jemals stabiler. Ihr ... habt etwas ganz Besonderes, Emily und du.“

Ich kam nicht dazu, sein Statement zu hinterfragen. Es war Ems Stimme, die mich davon abhielt.

„Noah, schau! Hilft das?“, fragte sie leise, unglaublich schwach. Sofort blieb ich wie angewurzelt stehen; Michael verschwand aus meinem Bewusstsein.

„Was, Süße, was? Zeig es mir!“

Die Bilder flackerten wieder, aber längst nicht mehr so stark wie die vorangegangenen. Dafür wirkten diese unmöglich verzerrt. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass Emily noch tiefer lag als zuvor. Sie sah nun senkrecht nach oben aus dem Seitenfenster des Wagens auf ein hell verkleidetes Haus. Das Auto stand, vielleicht an einer Ampel, denn der Motor vibrierte und surrte leicht unter ihrem schlaffen Körper, während ihr Blick auf das Haus sekundenlang unverändert blieb. Wie tapfer sie war. Wie schwach ich mich gegen sie fühlte.

Im Hintergrund hörte ich zwei dumpfe Stimmen, konnte aber nicht herausfiltern, worüber die Männer so aufgeregt diskutierten. Dort lag Emilys Fokus also nicht; sie wollte mir dieses Haus zeigen.

Aber ... „Was, Baby? Was meinst du?“

Und dann sah ich es, das Schild am Giebel des Hauses. Die weiße Schrift konnte ich nicht lesen, die Telefonnummer, die darunter stand, hingegen schon – bis auf die letzte Zahl, die vom Holm des Seitenfensters verdeckt wurde. Der Wagen fuhr erneut an und zog Ems Konzentration mit sich. Sofort brach der Kontakt ab. Dieses Mal zögerte ich keine Sekunde; endlich konnte ich etwas tun. Also griff ich nach meinem Handy und wählte die Nummer des Werbeschildes.

Als letzte Zahl probierte ich die 0: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Also die 1: Nach dem fünften Freizeichen meldete sich eine alte Frau mit gebrechlicher Stimme, die ich schnell wegdrückte und mich in Gedanken bei ihr entschuldigte.

Die 2: Ein etwa dreijähriges Kleinkind.

Die 3: Besetzt.

Die 4: Ewiges Rufen, das meine Geduld irgendwann überstrapazierte und mich auflegen ließ ...

Natürlich war es die gottverdammte 9, die zur Vervollständigung dieser scheiß Rufnummer fehlte!!!

„Noah, dieses ewige Fluchen ...“

Michael, ernsthaft? Jetzt?!“

„Schon gut, ich bin still.“

„Danke!“

Die 9: Das Freizeichen erklang nur einmal, dann meldete sich eine freundliche Frauenstimme: „Brooklyn Immobilien, hallo!“

„Ha, dem Himmel sei Dank! ... Ähm ...“

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht einmal den blassesten Schimmer hatte, was ich ihr erzählen sollte.

„... Ehrlich gesagt habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich Sie dazu bringen soll, mir zu helfen“, hörte ich mich auch schon sagen.

„Nun, teilen Sie mir doch einfach mit, welche Immobilie Ihr Interesse geweckt hat, und ich sehe für Sie nach, was sich tun lässt“, schlug die Frau am anderen Ende der Leitung vor.

Tja, wenn ich das wüsste.“

„Wie meinen Sie das?“ Meine Idee kam mit ihrem verständnislosen Ton.

„Haben Sie sehr viele Immobilien im Angebot?“

Das ist eine ungewöhnliche Frage. Etwa 80, warum?“

„Weil ich Ihnen weder die Straße, noch den Stadtteil nennen kann“, gestand ich. „Ich bin fremd hier, erst gestern angekommen. Vorhin fuhr ich mit einem Taxi durch die Straßen, und Ihre Nummer war leider alles, was ich mir auf die Schnelle merken konnte. Ich würde Ihnen das Haus aber gerne beschreiben.“

Sie lachte, schien mir die haarsträubende Story tatsächlich abzukaufen. „Okay, ich versuche mein Bestes.“

Wirklich? Das ist toll, danke! Also, das Haus war mit hellen Tafeln verkleidet, zumindest die oberen beiden Stockwerke. Darunter ... rötliche Backsteine.“

„Hm, das ist nicht sehr aussagekräftig“, befand die Dame.

„Ihr Schild hing am Giebel.“

„Das tun sie immer.

„Oh! Okay, warten Sie. Das Dach hatte eine eigenartige Form. Wie ... ja, so ähnlich wie die Zinnen einer Burg. Hoch, runter, hoch ... Wissen Sie, was ich meine?“

Sie räusperte sich. „Nun, ich denke schon, aber so genau ...“ Sie seufzte. „Einen Moment bitte, ich hole den Katalog.“

Mehrere Sekunden verstrichen still, dann war sie zurück. „So, mal sehen. ... Überlegen Sie ruhig weiter, ob Ihnen sonst noch was ins Auge gestochen ist, während ich mir die Exposés ansehe. Ein paar zusätzliche Merkmale könnten nicht schaden.“

„Okay.“ Ich hörte, wie sie blätterte. Nie würde sie erahnen können, wie dankbar ich für ihre Geduld war. Schnell schloss ich meine Augen und rief Emilys Bild des Hauses noch einmal ab. „Die Balkone“, sagte ich schließlich.

Was war damit?“

„Sie lagen nicht übereinander, sondern schräg versetzt zueinander“, erklärte ich. „Also, der des zweiten Obergeschosses war rechts, der untere weiter links. Sie waren durch eine Treppe verbunden. Die Geländer hatten diese altmodisch gedrehten, gusseisernen Stäbe.“

Wow! Dafür, dass Sie nur kurz mit einem Taxi an dem Objekt vorbeigefahren sind und sich nicht mal die Adresse merken konnten, erinnern Sie sich aber sonst an ziemlich viele Details. Was hat Ihnen denn so gefallen, dass es unbedingt diese Immobilie sein soll?“

„Ähm, die Lage?“ Nur als Frage getarnt kam diese Lüge über meine Lippen. Überhaupt: Warum lässt du mich lügen, Mike?

Mache ich nicht. Alle deine Aussagen waren wahr, stell dir vor. Dass du fremd in New York bist und die Stadt im Taxi durchkreuzt hast; dass du nur die Telefonnummer der Maklerin, nicht aber die Adresse der Immobilie kennst. Alles wahr. ... Nur der Kontext ... nun ja.“

Die Maklerin schwieg für einige Sekunden. Als sie weitersprach, hörte ich das ungläubige Lächeln in ihrer Stimme. „Die Lage?“, hakte sie nach, fuhr aber Gott sei Dank auch ohne Reaktion von mir fort. „Nun, ich denke, ich weiß jetzt, welches Haus Sie so beeindruckt hat, Sir. Könnte es in der Bushwick Avenue gewesen sein?“

„Wie? Bushwick?“

„Ja, genau, 27 Bushwick Avenue. Ihre Beschreibung trifft eigentlich nur auf dieses Objekt zu. Obwohl, die Lage ... Wir haben bessere Adressen, wissen Sie?“

Ich atmete tief durch. 27 Bushwick Avenue, so hieß mein nächstes Etappenziel. „Gute Frau, diese Adresse ist Gold für mich wert, glauben Sie mir. Ich danke Ihnen.“

„Sir ...“, war das Letzte, was ich hörte, bevor ich auflegte.

In Windeseile tippte ich die Adresse in mein Smartphone ein. Meine Finger glitten so schnell über die Tasten auf dem Display, dass ein normaler Mensch die Bewegungen kaum hätte erfassen können. Mit 11,4 Meilen berechnete der Routenplaner die Entfernung, 23 Minuten Fahrtzeit.

Bingo, das kam exakt hin.

Wieder prägte ich mir den Weg ein, wieder spulte sich die Strecke vor meinem geistigen Auge ab, wieder rannte ich wie ferngesteuert los. Es war nach wie vor zu hell, als dass ich von meiner Fähigkeit, mich in Lichtgeschwindigkeit zu bewegen, hätte Gebrauch machen können. Allerdings verschlechterten sich die Lichtverhältnisse innerhalb der folgenden Minuten rapide.

So schnell ich konnte, rannte ich durch die tristen Straßen. Rennen war gut, es verschaffte mir einen klaren Kopf und das Gefühl, nicht tatenlos abzuwarten. Und manchmal, nur manchmal, hatte mein störrischer Herzschlag auch etwas Gutes für sich. Körperlich zu ermüden war mir praktisch unmöglich. Nur meine Beine schmerzten mit der Zeit. Aber auch das war ein gutes Zeichen, kam einer Bestätigung gleich. Ich bewegte mich ... und zwar in die richtige Richtung – Emily entgegen. Beobachtete, wie sich die Gegend um mich herum veränderte, ließ das Gewerbegebiet hinter mir zurück und lief durch gepflegtere Straßen eines engbebauten Vorstadtgebiets.

Ich rannte noch nicht lange, als mich neue Bilder von Emily erreichten. Und in diesem Moment geschah etwas Eigenartiges: Eigentlich hätte ich mich auf den mir fremden Weg konzentrieren müssen, was ich jedoch nicht länger tat, sobald ich durch Ems Augen sah. Vermutlich hätte ich meinen Lauf unterbrochen oder zumindest verlangsamt, wenn mein Körper nicht beschlossen hätte ... ja, in gewisser Weise auf Autopilot umzuschalten und beinahe mechanisch weiterzulaufen. Ich verschwendete keinen bewussten Gedanken mehr an das Hier und Jetzt, lief aber dennoch in ungebrochen rasantem Tempo weiter.

„Noah ...“ Emilys Bilder flimmerten längst nicht mehr so stark wie zuvor, wirkten aber seltsam verschwommen. Und als ich ihre Gefühle empfing, die wie immer etwas zeitverzögert aufschlossen, wusste ich auch, warum: Emily weinte. Sofort stieg Wut in mir auf.

„Was ist passiert, Süße? Sag es mir!“

Ich hörte ihr leises, unterdrücktes Schluchzen und fühlte ihre Panik, die sie – schwach, wie sie war – kaum unterdrücken konnte. Sie lag nicht mehr in dem Wagen, sondern in einer riesigen leeren Fabrikhalle, Lagerhalle ... was auch immer. Rote Backsteinwände unter schmutzigem, bröckelnden Putz, rostige Rohre, eine hohe Decke, kleine Fenster, die zu hoch und viel zu verschmutzt waren, als dass Emily hätte hindurchblicken können.

„Eine Lagerhalle, Noah“, erklärte sie. Der Klang ihrer imaginären Stimme und die damit verbundene Erkenntnis ließen mich inmitten meines ungebremsten Laufes erzittern. Emily setzte all ihre Hoffnungen auf mich, rief nach mir und bat mich um Hilfe. Sie brauchte mich.

„Ich weiß, Em, ich weiß. Nicht mehr lange, dann bin ich da, versprochen.“ Ihre Bilder wichen erneut tiefer Dunkelheit. Ich fürchtete, sie wäre mir wieder entglitten, als ich ihre Stimme noch einmal hörte: „Noah, ich bin wach. Gott, ich hoffe so sehr, dass du mich hörst. Bitte, bitte, hör mich!“

„Tue ich! Ich höre dich. Erzähl es mir, Em!“

Himmel, sie derart verzweifelt zu hören – sie, die sonst immer einen klaren Kopf behielt –, schmerzte so sehr. Gott sei Dank ließ sie sich durch ihre Zweifel nicht von ihren Plänen abbringen. „Also ...“

Und dann entfaltete sie all ihre Erinnerungen und rief die entsprechenden Bilder aus ihrem Gedächtnis ab.

Im Prinzip gewann ich keine neuen Erkenntnisse: Unser Chauffeur und der Sicherheitsmann hatten sie betäubt und in eine leerstehende Lagerhalle verschleppt. Sie schienen die Lösegeldübergabe schnell hinter sich bringen zu wollen, das hatte Emily aus ihrem Gespräch herausgehört. Sie konzentrierte sich versessen darauf, alle Erinnerungen mit mir zu teilen, und war dabei so detailgenau, dass sie die folgenden Minuten mit ihren Beschreibungen füllte. Trotz der schrecklichen Situation, war es bis zu einem gewissen Grad beruhigend, in Emilys Kopf zu stecken. Denn so waren wir zumindest miteinander verbunden – und ich wusste, dass ihr keiner der beiden Bastarde zu nahe kam.

Eine Neuigkeit brachten Emilys Überlegungen allerdings schon mit sich. Sie verbarg sich in einem ihrer letzten Sätze und versetzte mich von einer Sekunde auf die andere in tiefe Sorge.

„Der Sicherheitsmann hat einen Dritten angerufen, Noah. ... Mist, ich habe seinen Namen vergessen. ... Ben? ... Tim? Nein, das war es nicht. Es gibt jedenfalls noch jemanden, und der ist der Anführer dieser gesamten Entführung. Er hat den anderen befohlen, mir nichts anzutun und ... bislang halten sie sich an das, was er ihnen aufgetragen hat.“

Nun, das war beruhigend. Trotzdem stellte der Dritte eine gesichtslose Gefahr dar, die ich nicht einzuschätzen vermochte.

Warum hatte er beispielsweise eine so öffentliche Veranstaltung zur Umsetzung seiner Pläne gewählt? Wenn es ihm um Geld gegangen wäre, hätte das keinen Sinn ergeben. An jedem beliebigen Schultag in L.A. hätte er Emily leichter abfangen und entführen können. Wenn es ihm jedoch nicht nur um Geld ging, was wollte er dann?

Mein Handy klingelte. Ohne meinen Lauf zu unterbrechen oder Emilys Gedanken auszublenden, nahm ich ab.

„Noah, wo bist du?“ Es war Adrian. Er sprach nicht, er zischte seine Frage.

„Brooklyn. Was gibt’s?“

„Hier geht immer noch alles drunter und drüber. Mittlerweile sind zwei Typen vom FBI aufgekreuzt und nehmen alles wieder von vorne auf. Sie reden mit David und Jason. Uns haben sie nur sehr kurz befragt. ... Weißt du etwas Neues?“

„Ähm, ja.“

„Und was?“

„Adrian ...“

„Ich mache, was du mir sagst, Noah. Wenn ich es für mich behalten soll ... Ich schwöre, nichts zu hinterfragen – weder deine Informationen, noch deine Entscheidung, ob du die anderen daran teilhaben lassen willst oder nicht. Nur sag mir bitte was du weißt. Bitte!“

Es gab absolut nichts, was ich dagegen hätte einwenden können. Wieder einmal merkte ich, wie uneingeschränkt ich Adrian vertraute – trotz all der schwierigen Jahre, die hinter uns lagen – oder vielleicht gerade deshalb. Weil wir diese Zeit überstanden und hinter uns gebracht hatten.

„Sie ist hier irgendwo in der Gegend, in einer alten Lagerhalle. Der Typ vom Sicherheitsteam ist nicht allein. Der Chauffeur, der Emily und mich zum Kino gefahren hat, ist sein Komplize. Vermutlich einer von mindestens zweien, denn irgendwer muss Jane im Hotel betäubt haben, nicht wahr?“

„Richtig“, befand Adrian.

„Und ich weiß, dass es noch einen anderen gibt, der in der Hierarchie ganz oben steht.“

„Okay. ... Du weißt auch, dass du mir das alles irgendwann erklären musst, oder?“

„Sicher.“

Nur werde ich dann nicht mehr da sein, Bruder. Emily wird da sein, sie wird leben. Ich hingegen ...

„Gut. Also, sollen die anderen davon erfahren, oder willst du weiter dein Mission Impossible-Ding durchziehen?“

Ich überlegte. Tja, was wollte ich? Blitzartig fasste ich zusammen: Sie hatten Emily. Ein unüberlegter Schritt könnte sie in ernsthafte Gefahr bringen. Immer wieder hatte ich Em aus Situationen gerettet, deren Gefahren ich überhaupt erst heraufbeschworen hatte. Ein ums andere Mal hatte ich sie aus selbstentfachten Feuern gezogen.

„Ich weiß es nicht“, sagte ich darum ehrlich die Worte kamen holprig vom Laufen, mein Atem ging flach. Adrian hingegen schöpfte die Luft extratief aus seinen Lungen. „Sag es mir, wenn du dich entschieden hast, okay?“

„Ja. Aber bis dahin ...“

„Schon klar, sage ich kein Wort. ... Noah?“

„Hm?

„Pass auf dich auf!“

„Okay. Bis dann!“ Damit legte ich auf. Sofort rückten Emilys Gedanken wieder in den Vordergrund. Kein einziger war mir in der Zwischenzeit entgangen. Ich war ein Musterbeispiel für Multitasking-Fähigkeiten, so viel stand fest.

Inzwischen hatte sich der vor wenigen Minuten noch dämmrige Himmel über mir mit tiefem Schwarz vollgesogen, wie ein Löschblatt mit Tinte. Nur die Wolken setzten sich in einem nebligen Grau ab. Nun, zumindest wusste ich, dass es für Menschenaugen so aussah. Für mich waren sie ockerfarben und der Himmel rostbraun.

Ich lief an einem Spielplatz vorbei; die metallenen Ketten der Schaukeln quietschten in ihren Ösen. Das Geräusch ließ mich innehalten und aufhorchen. Dass es so laut durch die einsetzende Nacht hallte, lag an der rundum herrschenden Stille. Die Straßen wirkten wie ausgestorben, sie waren menschenleer. Nur dann und wann fuhr ein Auto an mir vorbei.

Ich begab mich unter die schützenden Äste des Laubbaumes, der inmitten der Spielgeräte aus dem Boden rankte. Konzentriert kniff ich die Augen zusammen und suchte nach einem ansprechenden Ziel. In etwa hundert Metern Entfernung standen einige Müllcontainer an der Straße. Den vordersten fixierte ich, schloss die Augen und stellte mir vor, ich könnte in seinem Windschatten auftauchen ... was den Bruchteil einer Sekunde später auch geschah.

Von meinem Versteck aus erspähte ich einen Mauervorsprung, der mein nächstes Ziel darstellte. Und so hangelte ich mich weiter, über nur zwanzig Stationen und geschätzte anderthalb Minuten, bis ich unmittelbar vor dem hell verkleideten Haus stand, an dessen Giebel das Schild des Immobilienmaklerbüros prangte. 27 Bushwick Avenue.

Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich ein euphorisches Gefühl. Nun konnte es nicht mehr weit sein, auch wenn mir von hier aus jede weitere Wegbeschreibung fehlte. Aber von der Vision dieses Schildes bis zur nächsten, in der Emily bereits in der großen Halle gelegen hatte, waren nur wenige Minuten vergangen. Sieben, acht höchstens.

Also musste sie sich im näheren Umkreis von etwa ein, zwei Meilen befinden. Wenn überhaupt.

Em war immer noch präsent. Ihre Furcht und die Kälte, die sich ihres viel zu dünn bekleideten Körpers bemächtigt hatten, ebenso wie das Kribbeln ihrer tauben Finger. Ich spürte alles, worauf sie ihren Fokus legte und was sie mit mir teilen wollte. Besonders laut waren die Gedanken, die um ihre Situation kreisten und von Zeit zu Zeit immer wieder die ängstliche Frage aufwarfen, ob ich sie überhaupt hören konnte.

„Ich höre dich, Emily“, versicherte ich ihr. „Ich höre alles. Und ich bin so nah. Spürst du mich denn nicht?“

Nun, die traurige Wahrheit war, dass ich sie auch nicht spürte – zumindest nicht, wo sie war. Ob nah oder fern, ihre Gedanken waren immer gleich laut. Und da ich nicht wusste, wohin ich laufen sollte – wo diese abgewrackte Halle stand, in die sie mein Mädchen verschleppt hatten –, brachte mir auch das ’Beamen’ momentan nichts. Obwohl ...

Ich sah an der Hauswand des leerstehenden Hauses empor. Weit und breit gab es hier keine Straßenlaterne, es war sehr dunkel. Und menschenleer, nach wie vor. Ich verhielt mich reglos, bis die Ampel an der nahen Kreuzung auf Grün umschaltete und das einzige wartende Auto nach rechts abbog. Dann fixierte ich den flachen Giebel mit dem markanten Zinnenschnitt über mir.

Ein leichter, kühler Windstoß – schon stand ich auf dem Dach und hockte mich schnell hin. Von hier aus konnte ich die umliegenden Häuser überschauen, aber die geringe Höhe ermöglichte mir noch lange keinen Panoramablick. Etwa sechzig Meter entfernt befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein hohes und sehr breites Haus. Ich zählte sechs Stockwerke. Kein Vergleich zu den Wolkenkratzern Manhattans, aber hier draußen schien es weit und breit das höchste Gebäude zu sein. Und offenbar ein öffentliches, denn die Räume waren unbeleuchtet. Sehr gut.

Wieder fixierte ich das flache Dach, wieder landete ich sanft und nahezu lautlos darauf. Von hier oben konnte ich tatsächlich sehr weit schauen.

Den Blick zunächst nach rechts in die Ferne gerichtet, arbeitete ich mich immer weiter auf die linke Seite. Ich erspähte unzählige Reihenhäuser, einen Schulkomplex, einige Supermärkte, bis ... Oh Mann!

Nur zirka hundert Meter vor dem Gebäude, auf dessen Dach ich mich befand, erstreckte sich ein ganzes Meer aneinandergrenzender Backsteingebäude. Vermutlich ein altes Fabrikgelände mit angeschlossenen Lagerhallen.

Schnell fixierte ich ein neues Dach, das zwar nicht ganz so hoch, dafür aber wesentlich näher dran war, und landete darauf. Von hier aus konnte ich die ersten Lagerhallen betrachten. So gut wie alle wirkten verlassen, wiesen zerbrochene Fensterscheiben auf und befanden sich in einem hoffnungslos heruntergekommenen Zustand. Nur sehr vereinzelt hingen vergilbte Schilder ehemaliger Werkstätten und Autolackierereien an den rötlich-schmutzigen, graffitiübersäten Fassaden. Für mich bestand kein Zweifel: Irgendwo da unten war meine Emily. ... Nur wo?