XXIX.

 

Spät am Abend verließen wir das Four Seasons satt und bei bester Laune, wenn auch erschöpft. Zumindest ging es mir so. Die Reise hatte mich scheinbar stärker geschlaucht als die anderen, die tatsächlich noch Pläne für die Nacht schmiedeten. „Warum hast du nicht im Flugzeug geschlafen, wie wir?“, maulte Lucy, die alles daran setzte, Noah und mich mit zum Times Square zu schleppen.

„Ich kann im Flugzeug nicht schlafen“, erklärte ich. „Und du solltest es wirklich dabei belassen, glaub mir. Ich bin heute Abend keine gute Partie, dafür bin ich viel zu nervös und angespannt. Allein der Gedanke an den morgigen Tag lässt mich schon hyperventilieren.“ Ich zog Lucy ein wenig zur Seite, als ich das sagte. Dennoch hörte Noah mein Geständnis und legte die Stirn sofort in Falten.

„Warum bist du nervös?“

„Keine Ahnung! Die Menschenmassen, mein Hang mich grundsätzlich dann zu blamieren, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann, das Blitzlichtgewitter, der bloße Gedanke an hochhackige Schuhe ...“

„Ich dachte, du müsstest nicht über den Roten Teppich laufen“, hakte Noah beunruhigt nach.

Schnell ergriff ich seine Hand und drückte sie. „Muss ich auch nicht. Trotzdem, so stelle ich es mir vor.“

„Wie sieht es aus, steht dir der Sinn nach einem nächtlichen Sightseeing?“, hörte ich meinen Dad fragen. Jane, der die Frage gegolten hatte, zuckte mit den Schultern und gähnte hinter vorgehaltener Hand, was meinem Vater ein schallendes Lachen entlockte. Nie zuvor hatte er in meinen Ohren so jung geklungen, nie zuvor unbeschwerter.

„Das war eindeutig“, flachste er. „Also, fahren wir zurück zum Hotel. Sam, bringst du meinen Sohn und die Freunde meiner Tochter bitte zum Times Square? Vielen Dank!“

Ha, er übergeht Blondie auch, feixte ich innerlich.

Noah beugte sich ein wenig zu mir herab und kam dicht an mein Ohr heran. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Freundin deines Bruders einen Namen hat, weißt du?“

Grinsend versetzte ich ihm einen leichten Stoß gegen die Brust.

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich. Verona, Victoria, ... so etwas in der Art muss es sein. Blondie war es jedenfalls nicht, das weiß ich genau.“

„Sollen wir ein Taxi nehmen?“, fragte mein Dad hinter mir und ließ Noah damit ruckartig zurückweichen.

Ich blickte in den neblig-schwarzen Himmel über uns. Das Unwetter hatte nachgelassen, und es fühlte sich auch nicht so an, als würde innerhalb der nächsten Minuten ein neuer Schauer auf uns niedergehen. „Lasst uns doch zu Fuß gehen, es ist überhaupt nicht weit“, schlug ich vor.

„Prima Idee, Liebes!“, stimmte Jane zu und hakte sich entschlossen bei mir unter. „Nach diesem großartigen Essen wird uns die frische Luft guttun.“

Also verabschiedeten wir uns von den anderen, wünschten ihnen viel Spaß und machten uns dann auf den Weg zurück zum Hotel. Ich lernte die breiten Bürgersteige zu schätzen, denn sie ermöglichten es uns, geschlossen nebeneinanderher zu laufen. Meine rechte Hand hielt Noahs linke; Jane hatte sich nicht nur bei mir, sondern auch bei meinem Dad untergehakt und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Mein Vater und sie machten sich einen Heidenspaß daraus, mich vor Noah in Verlegenheit zu bringen, indem sie Erinnerungen austauschten, die allesamt mit einem „David, weißt du noch ...“ von Jane begannen, und mit einer gemeinsam geschilderten Peinlichkeit aus meinen Kindheitstagen endeten. Beispiel gefällig? In etwa so:

„David, weißt du noch, als du in diesem schrecklich kalten Winter mit Emmy um die Wette gerannt bist? Sie war damals vier Jahre alt und so dick eingepackt, dass sie wie ein zu klein geratener Teletubbie aussah. Die kleine Maus konnte sich so schlecht bewegen, dass du es trotz aller Mühe kaum geschafft hast, sie gewinnen zu lassen.“

Ja, genau, eines dieser Gespräche, bei denen sie so taten, als wäre man nicht einmal in der Nähe. Eines, bei dem man nur verlieren konnte.

Mein Dad lachte laut auf. Dass er dabei wie Jay klang, konnte kein gutes Omen sein. „Ja, das waren noch Zeiten, nicht wahr? Und ... oh ja, jetzt weiß ich, worauf du hinaus willst. ... Als sie gewonnen hat, wusste sie nicht, wohin mit sich und ihrer Freude. Ich war ja noch nicht bei ihr, immer noch bestrebt mit großem Abstand zu ihr zu verlieren. Also umarmte sie in ihrer Euphorie einen vereisten Laternenpfahl ...“

„Dad, bitte!“, jammerte ich an dieser Stelle. Vergebens natürlich.

„... und leckte einmal quer drüber“, offenbarte er mit einem breiten Grinsen. „Nun ja, zumindest hätte sie das getan, wäre ihre Zunge nicht auf der Stelle festgefroren.“

Jepp, Peinlichkeiten dieser Art. Solche, auf die jedes Mädchen gut und gerne verzichten konnte, während es Hand in Hand mit seinem Freund durch das nächtliche Edelviertel Manhattans schlenderte.

Noah hingegen amüsierte sich königlich. Er versuchte gar nicht erst, sich das Lachen zu verkneifen, besaß aber die Güte, mir zumindest von Zeit zu Zeit einen mitleidigen Blick zuzuwerfen – bevor er einem neuen Lachanfall verfiel. Heuchler!

Ich streckte ihm die Zunge heraus, mehr als nur einmal, aber eigentlich wärmte es mein Herz, ihn so unbeschwert zu erleben. Dass sein Spaß dabei voll auf meine Kappe ging ... Nun, seiʼs drum!

Jane war diejenige, die irgendwann aufrichtiges Mitleid mit mir bekam und das Thema auf die unfassbar hohen Wolkenkratzer der Stadt lenkte.

Auf dem verbleibenden Weg gähnte ich einige Male demonstrativ. Niemand sollte auf die Idee kommen, mich noch für irgendetwas einzuplanen, geschweige denn in die Nähe meines Zimmers zu kommen – außer Noah natürlich. Ich wollte nur noch zwischen den Kissen dieses riesigen, sehr bequem aussehenden Bettes versinken und schlafen. In seinen Armen, verstand sich.

Die Zimmer von Jane und meinem Dad lagen zwei Stockwerke über unseren, also verabschiedeten wir uns schon im Fahrstuhl. Noah bedankte sich sehr höflich für den schönen Abend „... und überhaupt, für die großartige Möglichkeit, Emily auf dieser Reise begleiten zu dürfen.“

Mein Dad winkte einfach ab, ein wenig verlegen vielleicht, während ich Jane ansah, dass sie unter Noahs Worten förmlich zerfloss. Sie hatte ihn bereits in ihr Herz geschlossen, ohne jeden Zweifel. Ich umarmte sie fest, ließ sie noch einmal wissen, wie sehr sie mir gefehlt hatte, und verließ den Fahrstuhl dann hinter Noah, der schon im Gang stand und mit einem sanften Lächeln auf mich wartete.

„Zu dir oder zu mir?“, fragte er, sobald sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten. Der Schalk funkelte aus seinen Augen. Mehr bedurfte es nicht – schon war ich wieder hellwach.

„Mein Zimmer!“, beschloss ich und zupfte ungeduldig am Ärmel seiner Jacke. Noah verschwand nur kurz in seinem Raum und holte seine Tasche. Wieder erwartete uns diese ruhige, klassische Musik und auf dem Glastisch vor dem beigefarbenen Sofa im meinem Zimmer stand ein mit Eis gefüllter Sektkübel.

„Die scheinen nicht zu wissen, wie alt wir sind“, bemerkte ich.

„Hm, ich bezweifle, dass sie dir so ohne weiteres Alkohol aufs Zimmer bringen würden“, brummte Noah und legte seine Arme von hinten um meine Taille.

„Vertrage ich sowieso nicht“, gestand ich kleinlaut. Irgendwie schienen Japaner unter meinen Vorfahren gewesen zu sein, denn ich war unfähig, auch nur ein halbes Glas Rotwein zu trinken, ohne dass sich mir alles drehte und ich zu lallen begann.

Mir fehlt da vermutlich irgendein Enzym oder so etwas ...

Em?“, flüsterte Noah an meinem Ohr.

„Hm?“

„Du denkst wirres Zeug.“

„Entschuldige.“

„Bett?“

„Ohhh ja!“

 

Noah ließ mir den Vortritt im Bad. Ich benötigte nur wenige Minuten, bis ich ihm in meinem üblichen Schlafoutfit gegenübertrat. Er lächelte – dieses süße kleine Lächeln, das er mir jedes Mal schenkte, wenn er mich so sah, und das mich jedes Mal wieder wünschen ließ, es wäre umgekehrt und ich könnte einen Blick in seinen Kopf werfen.

Er hatte sich ebenfalls seines Anzugs entledigt und trug nun nur noch seine Schlaf-Boxershorts. Die türkisfarbenen Augen erschienen im warmen Licht des Zimmers korallengrün, seine Haut schimmerte beinahe samten und makellos wie immer, das Haargel hatte unter unserem kleinen Spaziergang versagt; seine Haare standen wieder wirr von seinem Kopf ab. Kurzum: Er war unsagbar schön.

„Was?“, fragte er in seiner sanftesten Stimme und zog mich dabei in seine Arme.

„Du bist so schön“, flüsterte ich wahrheitsgemäß gegen sein Schlüsselbein. Was brachte es mir, meine Gefühle vor ihm zu verbergen? Und wieso hätte ich das tun sollen? Er wusste sowieso, wie es in mir aussah, wie ich ihn wahrnahm – und das war auch gut so. „Ich bin so froh, dass du hier bist, bei mir“, fügte ich glücklich hinzu.

Meine Fingerspitzen flüsterten über seine Seiten, über sein Kreuz und den Rücken, wo seine Haut weniger makellos war. Ich streichelte die größte Narbe, unterhalb des linken Schulterblatts. Mittlerweile wusste ich, dass sie nicht – wie die meisten anderen Narben – von Dougs Gürtelschnalle stammte, sondern sogar von einer zerbrochenen Bierflasche. Der Gedanke bewirkte jedes Mal erneut, dass sich mein Magen zusammenzog, und auch Noah zuckte immer noch, wenn ich ihn dort berührte. Inzwischen entspannte er sich aber deutlich schneller und schien die Liebkosungen schon nach wenigen Sekunden genießen zu können.

Wie zur Bestätigung meiner Gedanken – vermutlich war es genau das – schloss er seine Arme um mich und atmete schwer aus. „Komm, legen wir uns hin. Du bist erschöpft, und in weniger als einer Stunde bricht der große Tag an.“

Gut, das hätte er besser nicht gesagt. Sofort kehrte die Nervosität zurück, sie brodelte regelrecht in mir auf. Selbst Noahs Kuss, den er schnell über meine Lippen legte und besonders lang und zärtlich ausfallen ließ, vermochte es nicht, sie vollkommen zu ersticken.

Warum, um alles in der Welt, bin ich nur so nervös?

„Weil du morgen zum ersten Mal in eine Welt abtauchst, die schon immer ein versteckter Teil deines Lebens war, die aber de facto völliges Neuland für dich darstellt. Das ist doch verständlich“, erklärte Noah mit einem Schulterzucken und schlug dann das Bettzeug für mich zurück.

Bereitwillig legte ich mich zwischen die Laken und rückte zur Seite, aber er verschwand zunächst noch einmal im Bad. Ich hörte das Rauschen des Wassers, als er seine Zähne putzte, und kurz danach auch die Toilettenspülung. Ein Lächeln umspielte meinen Mund. Es fühlte sich so gut an, Noah an meiner Seite zu wissen. So natürlich und ... richtig.

Nein, er hatte recht. Wenn es Gerechtigkeit gab, würde irgendwas oder irgendwer unsere bevorstehende mysteriöse Trennung, die ich ohnehin anzweifelte, zu verhindern wissen. Woher ich mein blindes Vertrauen mit einem Mal nahm, war mir selbst nicht so ganz klar, aber in diesem Moment stand für mich fest: Noah wird ohne mich nirgendwohin gehen, auf keinen Fall!

Die Matratze gab nur leicht unter seinem Gewicht nach; schon schloss er seine Arme erneut um meine Mitte. Ich spürte das Spiel seiner Brustmuskeln, als er seine Fingerspitzen unter den Saum meines Tops gleiten ließ und zaghaft meinen Bauch streichelte. Sein Atem – weder warm, noch kalt – traf auf meine Haut, unmittelbar bevor er mit leicht geöffneten Lippen tausend kleine Küsse über meinen Nacken und meine Schultern streute. Schließlich tat Noah etwas, das er noch nie zuvor getan hatte: er pustete meine Haare zur Seite und ließ seine Zungenspitze federleicht über meinen Hals gleiten. Hoch, bis zu meinem Ohrläppchen, das er sanft zwischen seine Zähne sog. Sein Atem traf auf die feuchte Spur, die seine Zunge hinterlassen hatte und kitzelte dort angenehm. Ich seufzte und ergab mich beinahe reglos seiner Zärtlichkeit, während sich Noahs Atem beschleunigte, holprig wurde und er mich zunehmend enger an sich heranzog. Sobald mich jedoch dieses unverkennbare, warme Kribbeln durchrieselte und eine unleugbare Hitze entfachte, die binnen Sekunden durch meine Adern strömte und sich so in meinem gesamten Körper verbreitete, stoppte er seine Liebkosungen und legte seinen Kopf hinter meinem auf dem Kissen ab. Ich hörte, wie tief er durchatmen musste, um seine Fassung zurückzuerlangen.

„Träum süß“, flüsterte er schließlich. Und obwohl mir in diesem Moment absolut nicht nach Schlafen zumute war, protestierte ich nicht.

„Du auch“, entgegnete ich nur und küsste seine Fingerspitzen, jede einzelne. Dann legte ich seine Hand zurück auf meinen Bauch und versuchte mein Bestes. Allerdings ... Der Schlaf kam nicht, so geduldig ich auch wartete.

Ich dachte, Noah befände sich schon längst im Land der Träume, also lag ich so still wie nur möglich, um ihn nicht zu stören. Umso erstaunter war ich, als er nach einer gefühlten Ewigkeit laut in die Stille seufzte und sich erhob.

„Was ist?“, fragte ich und wollte mich aufsetzten. Er kam mir zuvor, legte eine Hand über mein Dekolleté und drückte mich zurück in die Matratze.

„Deine Gedanken, ... tausende. Du bist so aufgewühlt, Em“, erklärte er und begann dann, in seiner Tasche zu kramen.

„Nun, du bist nicht ganz unschuldig an diesem Zustand“, verteidigte ich mich und erntete dafür ein kurzes, verlegenes Lächeln, bevor Noah konzentriert weitersuchte. Endlich schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Sein Blick erhellte sich, die kleine senkrechte Falte über seiner Nasenwurzel verschwand.

„Ich habe hier etwas, das dich vielleicht zur Ruhe kommen lässt“, sagte er und hielt seinen iPod empor. Bevor ich begriff, legte er sich wieder hinter mich und steckte mir einen Kopfhörerknopf ins Ohr. Den anderen nahm er selbst. Einen Augenblick später erklang Dear true love und umspielte mein Herz schon mit den ersten sanften Gitarrenklängen so warm, dass ich mich spürbar entspannte. Im Bestreben Noah den Erfolg seiner Idee zu zeigen, nahm ich seine Hand und presste sie unmittelbar unter meine linke Brust, über mein nun wieder ruhig schlagendes Herz.

„Jedes dieser Worte ist wahr, weißt du?“, flüsterte er über die traurige Stimme des Leadsängers hinweg. „Ich bin nichts ohne dich. Ich wäre nicht einmal hier. So lange ... fühlte ich mich unsicher. Nie richtig vorbereitet auf das, was diese Welt noch für mich bereithalten könnte. Jetzt weiß ich, dass mir niemand diese Unsicherheit hätte nehmen können. Nicht einmal die stärkste Macht, die du dir vorstellen kannst. ... Absolut nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlt, an deine Seite zu gehören. Zu dir. Es ist mein größtes Privileg, meine größte Schwäche ... und der einzige Grund für meine Existenz. Ich liebe dich, Emily Rossberg. Ich liebe dich so sehr.“

Noahs Worte – so auserlesen und sorgfältig gewählt –, und seine Stimme, die sich sanfter denn je und gleichzeitig so bedeutungsschwer über die leise Melodie unseres Liedes legte, trieben mir heiße Tränen in die Augen.

Ich drehte mich um, zog ihn an mich heran und küsste ihn mit aller Zärtlichkeit und Liebe, die ich für ihn empfand. Meine Stimme hätte die einzige Ungewissheit dieses Augenblicks dargestellt, also verzichtete ich auf sie und gab Noah stattdessen, was ohnehin lauter zu ihm sprach: meine Gedanken, unverhüllt und offen.

Er beugte sich über mich, strich mir die Haare aus der Stirn und küsste die Tränen von meinen Wangen, bis keine neuen mehr nachkullerten. Dann küsste er meine Lider, als wollte er die Quelle endgültig versiegeln. Er zeichnete die Konturen meines Gesichts mit seinen Fingerspitzen nach und forderte mich auf, meine Augen geschlossen zu halten. Und so ergab ich mich dieser sehr, sehr verlockenden Tiefe, die sich unter mir auftat und mich erfolgreich aufforderte, mich doch endlich fallenzulassen.

 

In dieser Nach schlief ich zum ersten Mal unruhig in Noahs Armen. Gott sei Dank längst nicht so unruhig wie ohne ihn – nein, er lag am nächsten Morgen noch neben mir – aber dennoch wesentlich oberflächlicher als sonst. Wirre Träume zerhackten meinen Schlaf in viele kleine Sequenzen, die weder erholsam, noch aufschlussreich waren. Ich verstand selbst nicht, warum ich so aufgewühlt war. Nur eines stand fest: Ich zog Noah mit mir. Er reagierte wie ein Spiegel auf mich, und da meine Nachtruhe gestört war, war es seine auch.

Als der Morgen kam, setzte er sich auf und griff nach dem Telefon auf meinem Nachttisch. Ich traute meinen Ohren kaum, aber er bestellte tatsächlich den Zimmerservice und orderte „Ein englisches Frühstück, mit allem, was dazu gehört“.

„Was?“, fragte er, als ich die Augen aufschlug und entgeistert zu ihm aufblickte. „Ich werde dich in deinem Zustand bestimmt nicht meiner hyperaktiven Schwester aussetzen. Zumindest nicht, bevor ich sichergestellt habe, dass du ordentlich gegessen hast. Du kriegst doch sonst keinen Bissen mehr runter.“

„Und warum englisch?“, hakte ich nach.

Noah zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, gerade heute könntest du etwas Vertrautes gebrauchen.“

„Absolut“, stimmte ich dankbar zu.

Wir aßen im Bett. Ziemlich dekadent, ja, aber eben auch sehr gemütlich, romantisch und entspannend. Sobald Noah den Servierwagen neben unser Bett schob und die silberne Tellerglocke liftete, strömte der deftige Geruch von Toast, Speck, Eiern und gebackenen Bohnen durch den Raum und erfüllte ihn. Und Noah behielt recht: Als ich die Augen schloss und den wohlbekannten Geruch inhalierte, saß ich in Gedanken wieder in unserer Küche in Manchester und plauderte mit Jane, während ich mir Gabel um Gabel in den Mund schob und genüsslich kaute. Ehe ich mich versah, spürte ich tatsächlich Metall an meinen Lippen, die sich unter dem verlockenden Duft wie von selbst teilten.

„Hmmm“, brummte ich wohlig und verdrehte vermutlich sogar die Augen, denn Noah grinste breit und zögerte keinen Augenblick, die Gabel neu zu beladen.

„Gut?“

„Hm-hm“, machte ich. Plötzlich fiel mir etwas ein, das die Erinnerung an Jane und unsere gemeinsame Zeit in Manchester zutage gebracht haben musste. Ich beeilte mich zu schlucken und hielt Noahs Hand fest, die sich mit der Gabel schon wieder in Richtung meines Mundes bewegte. „Sag mal, was ist eigentlich mit Jane und meinem Dad? Was hast du gehört?“

Kaum hatte ich meine Frage ausformuliert, schob er mir die nächste Ladung in den Mund. Ich kaute demonstrativ, sah ihn dabei aber erwartungsvoll an.

„Jane ist hin und her gerissen“, begann Noah zögerlich. „Sie bereut ein wenig, nicht mit euch nach Amerika gegangen zu sein. Sie hat deinen Vater sehr genau gemustert, und zwar ... na ja, anders, als es Freunde tun würden. Viel ... intensiver.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Details wirklich hören wollte, was Noah wohl auch spürte.

„Sie hat ihn auf jeden Fall unglaublich gern. Er fehlt ihr sehr. Ihr alle fehlt ihr viel mehr, als sie es gedacht hätte. So richtig ist ihr das wohl erst gestern Abend bewusst geworden. Viel mehr kann ich dir nicht sagen.“

„Macht nichts, das reicht!“, rief ich aus und klatschte begeistert in meine Hände. Oh Gott, voll wie Lucy!

„Ja, habe ich auch gerade gedacht“, sagte Noah und schaute etwas befremdlich.

Ich blickte an uns herab; wir berührten einander nicht. Nicht einmal leicht. „Wie ...?“, fragte ich verwundert.

Noah lachte. „Manchmal sind deine Gedanken so transparent, dass ich sie auch so lesen kann. Jetzt gerade war es der plötzlich einsetzende Schock in deinen Augen.“

Ich verpasste ihm einen Klaps auf den Oberschenkel und nahm ihm dann die Gabel aus der Hand, um allein weiter zu essen und ihn zwischendurch auch mit dem einen oder anderen Happen zu füttern.

„Hättest du denn gerne, dass die beiden zusammenkommen?“, fragte Noah ein wenig später.

„Ja, schon irgendwie“, gab ich zu. „Jane war fast wie eine Mutter für uns, und mein Dad ... ist im Prinzip genauso allein wie sie. Die beiden haben sich immer blendend verstanden. Irgendwie wäre es ... ja, gewissermaßen sogar logisch. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, wenn sie ... ähm ... tiefere Gefühle zueinander entwickeln würden.“

 

So schön unsere Zweisamkeit auch war, gegen zehn Uhr mischte sich ein schlechtes Gewissen unter die Zufriedenheit und breitete sich bis halb elf so weit aus, dass wir schweren Herzens beschlossen, die anderen aufzusuchen. Von denen hatten wir eigenartigerweise bislang nicht mal einen Mucks gehört. Unsere Wahl fiel auf Adrians Zimmer. Der beantwortete unser Klopfen sofort mit einem „Moment, bitte!“ und öffnete uns etwa eine halbe Minute später völlig verschlafen die Tür.

„Was habt ihr noch gemacht?“, fragte ich bei seinem Anblick.

„Oh, kommt erst mal rein!“, forderte uns Adrian auf und setzte mit dem Rollstuhl zurück. „Deine Frage sollte Was habt ihr nicht gemacht? lauten, glaub mir. Wir haben nämlich schlichtweg alles gemacht, was Lucy so im Kopf herumging. Und das war eine Menge. Aber dein Bruder ist auch nicht besser, Emily. Beide total durchgedreht.“

Ich schüttelte lachend den Kopf. „Habe nie behauptet, dass Jay besser ist. Wann seid ihr denn zurückgekommen?“

„Gegen drei ... oder so.“ Adrian gähnte und warf einen sehnsüchtigen Seitenblick auf sein Bett. Noah schaute sich nur sehr verhalten um. Vermutlich befürchtete er, Kathy könnte jeden Augenblick aus dem Bad kommen. Aber Adrian schien wesentlich braver zu sein als seine Geschwister. Zumindest war er definitiv allein.

Wir verließen ihn bald wieder, verzichteten darauf, Lucy und Tom aus ihren Betten zu klopfen (obwohl die Versuchung zugegebenermaßen recht groß war) und fuhren hinunter in die Lobby, wo wir unverhofft auf Jane und meinen Dad trafen.

Mein Vater war aufgeregt, das sah ich ihm schon aus etlichen Metern Entfernung an, noch ehe er so ungewohnt hastig auf mich einredete: „Emily, wie gut, dass ihr da seid. Ich habe gerade mit George von der Organisation gesprochen. Er schickt nach dem Mittagessen, so gegen halb drei, eine Stylistin ins Hotel, um euch Mädels beim Schminken zu helfen. Halb fünf stehen dann die Wagen bereit, die euch direkt zum Hintereingang des Kinos fahren. Die Premiere beginnt um 18.00 Uhr, danach gibt es eine Aftershowparty, irgendwo in der Stadt. Den Roten Teppich ersparen wir euch, wie versprochen, aber ihr könnt die Live-Übertragung auf der Kinoleinwand verfolgen.“

„Und du?“, fragte ich nur, sobald sein Wortschwall abbrach. „Wann wirst du abgeholt?“

Er sah auf die Uhr. „In anderthalb Stunden. Ich werde noch einige Interviews geben müssen. Aber später, im Kino, sitze ich direkt neben dir, versprochen.“ Bei diesen Worten klang er wie der Vater aus meiner Kindheit, der mich ermutigte, allein in die Schule zu gehen und mir im gleichen Atemzug versprach, mich pünktlich wieder abzuholen. Wie damals sah ich ihn nur mit großen Augen an und nickte tapfer.

Er wandte sich Jane zu, die genauso nervös wirkte wie ich. „Und neben dir, Jane. Wenn du das willst“, fügte er leise hinzu. „Sicher“, japste sie und drückte seine Hand für einen Moment.

Ohhh, und ob es hier funkte. Und wie!!!

Gerade als die Blicke der beiden miteinander zu verschmelzen schienen, klingelte das Handy meines Vaters. „Entschuldigt bitte“, bat er höflich und entfernte sich ein paar Schritte. Wir warteten eine Weile, doch sobald er auflegte, klingelte es erneut ... und dann noch einmal.

„Sollen wir nicht ein wenig durch den Park gehen?“, fragte Jane und deutete auf meinen Dad. „Ich glaube, wir machen David ein schlechtes Gewissen, indem wir hier herumstehen und auf ihn warten. Er muss arbeiten, das ist offensichtlich.“

Ja, das stimmte wohl. Noah und ich willigten ein und warteten in der Empfangshalle, während Jane ihre Jacke und Tasche holte. Als sie ausgehfertig aus dem Fahrstuhl trat, telefonierte mein Dad immer noch. Kurzerhand ging ich auf ihn zu, drückte ihn an mich und flüsterte „Bis später, viel Erfolg!“, was er mit einer Kusshand zu mir und einer zu Jane erwiderte, ehe er geschäftig weitersprach.