I.

 

Ringgggg...

Beim ersten Klingeln meines Weckers saß ich im Bett. Sonnenstrahlen durchbohrten die Vorhänge meines Zimmers. Mittlerweile hatte ich mich an den frühen Sonnenaufgang gewöhnt. Das grelle Licht und die Wärme selbst der frühesten Morgenstunden störten mich kaum noch; ich fühlte mich ausgeschlafen und fit.

Mit einer viel zu ruckartigen Bewegung schwang ich die Beine über die Bettkante und sprang auf. Dumme Idee, natürlich wurde mir sofort schwindlig. Schwärze breitete sich vor mir aus und umhüllte mich wie seidener Stoff.

Schnell tastete ich nach meiner Kommode, hangelte mich daran herab, setzte mich auf den Fußboden und klemmte den Kopf zwischen meine angewinkelten Knie. Das half meistens ... und auch dieses Mal. Sobald sich die wirbelnden Farben aufgelöst hatten und mein Bewusstsein zu mir aufschloss, drang ein einziger Gedanke an die Oberfläche und setzte sich gegen alle anderen durch:

Der Tag meiner Erlösung ist da.

Ich erhob mich vorsichtig, wischte mir die zerzausten Haare aus der Stirn und warf einen prüfenden Blick in den großen Standspiegel neben meinem Bett. Das übliche Chaos blickte mir entgegen: Ich trug ein ausgeleiertes, löchriges Tanktop, das vermutlich irgendwann einmal rot gewesen sein musste. Dazu eine blau-weiß karierte Boxershorts meines Bruders, die er sich mal wieder zu klein gekauft hatte. In dieser Klimahölle, in die unser Vater uns verschleppt hatte, leisteten mir Jasons Fehlkäufe in manch einer Nacht gute Dienste. Am schlimmsten aber waren – wie immer – meine Haare.

Keine Ahnung, wie ich schlief – was um alles in der Welt ich nachts anstellte. Doch die regelrecht verfilzten, rostroten Strähnen, die sich wirr um meinen Kopf schlängelten, teils schlaff herabhingen und teils abstanden, ließen auf wilde Szenen schließen.

Das Laken, in dem ich mich in diesem Moment mit dem Fuß verfing und stolperte, weil es mal wieder hauptsächlich den Boden und nicht etwa meine Matratze bedeckte, erzählte dieselbe Geschichte. Obwohl ich mir mein Knie schmerzhaft an der Kommode stieß, tat ich den Beinahesturz mit einem Lachen ab, wickelte das Laken um meinen Arm und warf es zurück auf das Bett.

Sollte jemals ein Mann den Mut aufbringen, neben mir zu schlafen, würde ich mich in peinlicher Erklärungsnot befinden, so viel stand fest. Vorausgesetzt, der arme Kerl überlebte die Nacht an meiner Seite überhaupt. Wie gut, dass ich bisher niemandem Rechenschaft schuldig war.

Wieder fiel mein Blick in den Spiegel. An anderen Tagen hätte mich der Anblick meiner Haare wohl an den Rand der Verzweiflung getrieben. Doch an diesem Morgen ignorierte ich die Missstände meines Äußeren, wischte mir eine verfilzte Haarsträhne aus der Stirn und gönnte meinem Spiegelbild sogar ein ermutigendes Grinsen. Heute war alles anders. Der erste Tag meines neuen, unbehelligten Lebens brach an.

Gut, das war vielleicht ein etwas theatralischer Blick auf den Stand der Dinge, aber Fakt war, dass ich mich zum ersten Mal seit unserer Ankunft hier auf die Schule freute.

Ich freute mich auf meine bisher einzige Freundin Kathy, die erst am Vortag aus ihrem Feriencamp heimgekehrt war, auf einige andere Schüler meiner Stufe und kurioserweise sogar auf manch einen Lehrer. Am meisten jedoch – und das war der eigentliche Grund für meine gute Laune – freute ich mich auf neue Schüler.

Ich erwartete niemanden Bestimmtes, im Gegenteil. Wer kommen würde, war mir völlig egal. Ich freute mich auf die Ankunft neuer, fremder Schüler, die mich nach den nervenzehrenden Monaten vor den Sommerferien endlich von meinem unfreiwilligen Sonderposten ablösen würden. Ab heute war ich nicht mehr die Neue.

Soweit ging zumindest meine Hoffnung, auf die ich mich innerhalb der letzten Wochen dermaßen versteift hatte, dass sie mittlerweile einer Gewissheit glich. Ich war mehr als zuversichtlich, heute mal ausnahmsweise nicht wie ein Affe im Käfig angegafft zu werden.

 

Zwei Monate vor den großen Ferien waren wir nach Little Rose gezogen. Wir, das waren mein Vater David, mein Bruder Jason und ich. Dad war als einer der besten Filmregisseure Englands bekannt. Nach dem Erfolg seines letzten Films bekam er gleich mehrere Angebote großer amerikanischer Filmstudios, die er selbst als unablehnbar bezeichnete. Eine Zeit lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, zwischen Manchester und L.A. hin und her zu pendeln. Doch als ihm klar wurde, dass die Dreharbeiten mindestens anderthalb Jahre beanspruchen würden, diskutierte er den Umzug mit uns.

Ich schlug vor, er sollte doch alleine gehen, doch mein Dad wäre nicht mein Dad gewesen, hätte er das tatsächlich getan. Niemals hätte er uns allein in England zurückgelassen. Mit viel Geschick hatte er unsere kleine Familie nach dem frühen Tod meiner Mutter schon durch einige Krisen und weitaus weniger glamouröse Zeiten manövriert, und so schuldete ich ihm einfach den Gefallen, tapfer mit seinem Entschluss umzugehen. Leicht fiel mir das nicht. Ich liebte England nämlich und ganz besonders mein Manchester.

Mit der prallen Sonne, die hier an durchschnittlich 325 Tagen im Jahr schien, konnte ich überhaupt nichts anfangen. Andauernd wurde mir schwindlig vor Hitze und meine anfänglichen Hautprobleme entpuppten sich schnell als eine Allergie gegen Sonnenschutzmittel. Gegen alle. Mir blieb also die Wahl zwischen ungeschützt und verbrannt oder eingecremt und hoffnungslos verpickelt, Juckreiz inklusive – und so lief ich ständig mit hochrotem Kopf durch die Gegend. Meine von Natur aus blasse britische Haut wehrte sich schlichtweg gegen die Sonne, was sollte ich tun?

Mein älterer Bruder Jason hatte mit der Umstellung keinerlei Probleme. Gesegnet mit den Genen unserer Mum – unempfindliche Haut und dunkelbraunes Haar – fieberte er dem Umzug nach Kalifornien förmlich entgegen.

So sehr ich mich auch bemühte, ich empfand nicht einmal den Hauch von Jasons Begeisterung, als wir in den Vereinigten Staaten von Amerika ankamen. Ich vermisste alles, was mein ehemaliges Zuhause ausgemacht hatte: Meine Freunde, meine Schule, das Wetter und vor allem Jane, unsere liebe Haushälterin, die sich so lange um uns Kinder gekümmert hatte. Sie wollte England nicht verlassen, nicht einmal für uns. Dad hätte das ganze Unterfangen daraufhin beinahe wieder abgeblasen, aber mit Jason im Nacken und den verlockenden Verträgen am Haken entschloss er sich schließlich doch zu gehen.

Mein erster Tag in den USA verlief niederschmetternd.

In einer Limousine, angemietet durch die neue Produktionsfirma meines Vaters, chauffierte uns ein älterer Mann namens Sam vom Flughafen zu unserem neuen Haus. L.A. selbst war ... nun ja, in meinen Augen charmelos und unspektakulär. Protzig anmutende Palmenalleen und Parks, die mich an die Grünanlagen von Disneyland erinnerten, wechselten sich in anderen Stadtteilen ab mit breiten, teils stark beschädigten Straßen und Gebäuden mit flachen Dächern und abblätterndem Putz.

Am Rande der kalifornischen Stadt säumten ordentlich gepflasterte Gehwege die Straßen. Die Häuser dieser Gegend schienen aus ihren akkurat angelegten Vorgärten zu wachsen und erinnerten mich an das nostalgische Puppenhaus meiner Oma, mit dem ich als Kind nie hatte spielen dürfen.

„Nur ansehen, nicht anfassen!“, hörte ich ihre lange schon verstummte Stimme noch einmal, während Sam die Limousine über hellgraue Straßen lenkte. Ja, genauso wirkten diese Häuser auf mich. Bloß nicht anfassen!

Und so ging es weiter: die riesigen HOLLYWOOD-Buchstaben, die Palmen in der Mitte der Straße, die getrimmten Laubbäume auf den Gehwegen, die Brücken, die in der Realität noch viel gewaltiger wirkten als auf dem Fernsehbildschirm. Hier war rein gar nichts vertraut. Bestimmt lebten zu 99,9 Prozent Snobs in diesen protzigen Häusern, und ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren, eines Tages zu ihnen zu gehören, so viel stand fest.

Ich musste einfach nur die Highschool hinter mich bringen, dann konnte ich fürs Studium zurück nach England gehen.

Jason dagegen flippte neben mir vollkommen aus. Mein Bruder – laut Ausweis zwei volle Jahre älter als ich – klebte förmlich an dem getönten Seitenfenster der Limousine und wusste vor lauter Begeisterung gar nicht mehr wohin mit sich.

Nach einer knappen Stunde Fahrtzeit fuhr Sam durch ein schmiedeeisernes Tor, dessen Flügel er per Knopfdruck öffnete. Weiße Steinchen der gigantischen Auffahrt knirschten unter den Reifen, bevor der Wagen endlich hielt und Jay beim Anblick unseres neuen Hauses aufjubelte. Genervt hievte ich mich aus dem Ledersitz und warf die Tür hinter mir zu. Keine Sekunde länger hätte ich es neben diesem Spinner ausgehalten.

 

Das Haus war genial, zugegeben, aber weder der riesige Garten mit Pool, noch mein 25 qm großes Zimmer mit eigenem Bad konnten mich lange trösten. Wie gerne hätte ich diesen Raum mit all seinen hellen Möbeln gegen mein deutlich kleineres, schlichtes Zimmer in Manchester zurückgetauscht. Dad gegenüber tat ich so, als wäre alles wunderbar. Ich versuchte wirklich jedes Detail zu würdigen: die cremefarbenen Vorhänge, die dezente Bettwäsche und die weißgebeizten Holzmöbel. Groß, hell, freundlich, einladend. Es war wirklich perfekt und absolut nach meinem Geschmack. Eigentlich.

Langsam legte sich ein Lächeln über das Gesicht meines Vaters, doch es war eines der traurigen Art. „Emily, es ist nicht für immer, versprochen.“

Seine Worte klangen so entschuldigend, dass ich nicht wagte ihn anzusehen, aus Angst sofort loszuheulen. Also starrte ich auf meinen wohlbestückten Schreibtisch und wartete darauf, dass das Brennen hinter meinen Lidern nachließ.

Ich hab doch gar nichts gesagt“, antwortete ich leise, sobald ich meiner Stimme wieder traute.

„Ich weiß.“ Er nickte und presste die Lippen zusammen. „Das brauchst du auch nicht. Ich sehe dir doch an, wie schwer es dir fällt. Und wie sehr du dich bemühst, es mich nicht spüren zu lassen.“

„Dad, es…“

Er winkte ab. „Nein, du musst dich nicht entschuldigen, Emmy. Ich kann dich ja verstehen.“ Mit einem Seufzer ließ er sich auf meine Bettkante fallen. Er sah abgespannt aus, als er mit den Handballen über seine geschlossenen Augen rieb und mich dann wieder ansah.

„Mir wird Manchester auch fehlen”, gestand er. „Vielleicht verstehst du das nicht. Vielleicht denkst du, dass ich doch sowieso andauernd unterwegs bin, aber Manchester war immer mein Anker, weißt du? Meine Heimat eben. Unser Haus wartet auf uns, wir gehen wieder zurück, versprochen. Aber ... für die kommende Zeit ... lass uns zumindest versuchen hier zurechtzukommen, okay?“

„Ja, sicher“, erwiderte ich schnell. Es tat mir weh, ihn so zu sehen, und ich verfluchte mein nicht vorhandenes Schauspieltalent.

In diesem Moment stürmte Jason in mein Zimmer. Ohne anzuklopfen, natürlich. Doch dieses Mal ärgerte ich mich nicht über ihn; sein polterndes Erscheinen löste sogar eine kleine Erleichterung aus. Manche Dinge würden sich wohl nie ändern, ganz egal, wo wir gerade lebten.

„Das Haus ist der Hammer, Dad!“, schrie Jay in seiner Aufregung. „Riesig und cool. Voll Hollywood. Der Billardtisch ist der Wahnsinn, wirklich. Und…“

Moment mal, bitte was?

„Wir haben einen Billardtisch?“, entfuhr es mir voller Entsetzen.

Verdammt, wir waren bereits Snobs.

 

Am nächsten Morgen – ohne jede Schonfrist und mitten im laufenden Schuljahr – begann mein neuer Alltag.

Die Schule war mittelgroß, es gab zirka fünfhundert Schüler. Endlich mal etwas, das nicht größer und formidabler war, als ich es von zu Hause aus kannte. Wäre die Schule jedoch ein wenig größer gewesen, dann hätte ich vielleicht nicht solch ein Aufsehen erregt. Aber so – in der überschaubaren Menge meiner Mitschüler – sah jeder auf den ersten Blick, dass ich hier neu war. Zum wohl tausendsten Mal in meinem Leben verfluchte ich meine rötlich wallende Mähne, die an Auffälligkeit kaum zu überbieten war.

Die zwanzig Meter über den breiten Korridor bis zur rettenden Tür des Sekretariats kamen mir wie ein Spießrutenlauf vor. Dort begrüßte mich eine nette Dame, hakte meinen Namen in einer Liste ab und fragte, ob sie mich zu meinem ersten Klassenraum begleiten solle. Ich lehnte ab, noch ehe sie ihr Angebot überhaupt ausformulieren konnte. Die gute Frau reichte mir einige Formulare, die ich noch ausfüllen musste, und ein paar andere, die ich ihr von den Lehrern unterschrieben zurückbringen sollte. Dann entließ sie mich auch schon wieder mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wünsche dir einen wunderschönen ersten Tag, Liebes.“

Hmpf. Ja, klar! Ich schluckte schwer, rang mir ein Gegenlächeln ab, das mit Sicherheit den Anschein erregte, ich würde an Blähungen leiden, und wandte mich ab.

 

Das erste Fach auf meinem Plan war Geschichte. Als ich den Raum betrat, herrschte völliges Chaos. Während die Jungs sich wie Zweitklässler gegenseitig mit Kreidestücken, Papierfliegern und dem wassergetränkten Tafelschwamm bewarfen, standen die Mädchen in mehreren kleinen Gruppen zusammen, kicherten albern und lästerten provokativ über die Mädchen der jeweils anderen Gruppen.

Zunächst nahm niemand Notiz von mir, doch es kam, wie es kommen musste: Ein ziemlich breit gebauter Junge lief rückwärts, um einen der Flieger aufzufangen. Natürlich rempelte er ausgerechnet mich dabei so stark an, dass mir die Bücher aus dem Arm fielen und lautstark auf den Laminatboden klatschten. Er wirbelte zu mir herum und sah mich sekundenlang wie eingefroren an. „Wow! Du hast die grünsten Augen, die ich je gesehen habe, Kleines“, ließ er mich endlich wissen. Und mit diesem Spruch richteten sich schlagartig siebzehn Augenpaare auf mich. Plötzlich war es so ruhig im Raum, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Doch die Stille währte nur kurz, bevor Pfiffe und schallendes Gelächter einsetzten. Na super!

„Du bist die Neue. Emily, richtig?“ Das Mädchen, das mich mit diesen Worten so gnädig erlöste, saß allein an dem Tisch, vor dem ich stand, und beteiligte sich nicht an den Lästereien unserer Mitschülerinnen.

Sehr sympathisch!

„Ja genau. Hallo!“, erwiderte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme, die vor Nervosität deutlich bebte. Schnell räusperte ich mich.

„Ich bin Kathy”, stellte sich das Mädchen vor.

Kathy trug eine schmale Brille, war dunkelblond, blauäugig und ziemlich unauffällig – weit entfernt von hässlich, aber auch nicht übermäßig hübsch. Durchschnittlich, stellte ich erleichtert fest, und beschloss, dass sie ein erstes aufrichtiges Lächeln wert war. Durchschnittlich war gut. Kein Snob. Nein, so sah sie in ihrem simplen T-Shirt und den modischen Bluejeans irgendeiner No-Name-Marke wirklich nicht aus.

Seeehr sympathisch. Dass die Chemie zwischen uns beiden von der ersten Sekunde an stimmte, blieb das einzig Positive dieses Tages.

Offensichtlich hatte es sich im Vorfeld bereits herumgesprochen, dass die Neue die Tochter eines Produzenten und Regisseurs war. Sobald wir die Klassenräume wechselten, bildeten sich Trauben neugieriger Mitschüler um mich herum, die mich mit unzähligen Fragen bombardierten.

Zu Hause in Manchester hatte ich nie im Mittelpunkt gestanden. Ich war weder besonders beliebt, noch verhasst. Nur, na ja ... schwer wahrnehmbar. Wie ein Schluck Wasser: Ich schmeckte nicht besonders, schadete aber auch niemandem und konnte bisweilen sogar nützlich sein, ohne danach zu lange im Gedächtnis zu bleiben. Das Modell Graue Maus stand mir gut und hatte, bis zu diesem Tag, immer prächtig funktioniert. Doch hier, in diesem fremden Land, an diesem neuen Ort, scheiterte meine Strategie. Am liebsten hätte ich mich irgendwo verkrochen. Tief, tief unter der Erdoberfläche.

Kathy schien sich als Einzige nicht im Geringsten dafür zu interessieren, was mein Dad machte, wie groß unser Haus war und ob ich schon zum Shoppen in die Stadt gefahren war. Ein tipptopp gestyltes, hellblondes Mädchen namens Holly, fragte schließlich das, was wohl einigen anderen ebenso auf den Zungen brannte: „Du hast deinen Dad doch sicher schon zu den großen Preis-Verleihungen begleitet, nicht wahr? Kennst du viele Stars? Zac Efron vielleicht oder ... Johnny Depp? Was ist mit ...?“ Als ich mit einem Kopfschütteln antwortete, das sich mit jedem folgenden Namen wiederholte, kassierte ich zunächst enttäuschte, später sogar ungläubige Blicke. Als würde ich mich weigern, mein exklusives Leben mit ihnen zu teilen. Ich war mir ziemlich sicher, jetzt schon als Emily, die arrogante Tochter dieses britischen Regisseurs einen zweifelhaften Bekanntheitsgrad erlangt zu haben.

Nur zwei der hartnäckigsten hielten mir auch nach den ersten Wochen noch die Treue. Das war zum einen Tom, mit dem ich an meinem ersten Tag so unsanft zusammengestoßen war und der mich oft an einen gigantischen Teddybären erinnerte. Er war groß und stämmig und litt offenbar unter Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Er konnte sich mein Nein bezüglich eines Dates keine zwei Stunden merken. Ungefähr fünfmal täglich holte er sich seine Abfuhr ab, was weder seiner blendenden Laune, noch unserer lockeren Freundschaft einen Abbruch tat. Tom mochte nicht der Hellste sein – wahrscheinlich würde er das College nur aufgrund eines Baseballstipendiums besuchen dürfen –, aber er war durchaus amüsant.

Und dann war da natürlich Kathy, die schnell zu einer echten Freundin wurde. Meiner einzigen echten Freundin.

Alles in allem entspannte sich die Lage jedenfalls deutlich.

Ich fing gerade an, mich einigermaßen wohl zu fühlen, da kam er: Jason. Ungebeten, unerwartet und ganz gewiss nicht uneigennützig, tauchte mein gutaussehender Bruder drei Wochen nach meinem ersten Tag vor der Schule auf und zerstörte meine mühevoll erarbeitete Ruhe damit schlagartig. Lässig stand er in der Eingangstür, seinen Motorradhelm in der einen, einen weiteren in der anderen Hand, und grinste mich breit an. Ich wusste genau warum er hier war. Dieser erbärmliche …

„Jay, mach, dass du hier wegkommst!“, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, während ich mich an ihm vorbeiquetschte.

Warum? Du hast es in drei Wochen nicht geschafft, auch nur eine gutaussehende Freundin mit nach Hause zu bringen. Also musste ich jetzt langsam mal zur Tat schreiten, meinst du nicht?“

„Gott, Jason, musst du denn nicht studieren?“, maulte ich genervt.

Er zuckte nur mit den Achseln. „Nö, erst im Oktober, weißt du doch. Bis dahin bin ich frei wie ein Vogel.“

Super! Schon spähten die ersten Mädels zu uns herüber.

Jason sah wirklich gut aus, das musste sogar ich als seine Schwester zugeben. Mit seinen dunklen Wuschelhaaren und den jeansblauen Augen, in denen immer etwas Kindliches, Unbeschwertes funkelte, stahl er sich mühelos in die Herzen der Mädchen ... und brach eines nach dem anderen.

Natürlich verfehlte sein Auftritt nicht seine Wirkung.

Nur einen Tag später – nachdem ich hundertmal klargestellt hatte, dass Jason nicht mein Freund, sondern mein großer Bruder war – scharten sich die Mädels unserer Stufe wieder nur so um mich, getrieben von der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jason.

Erschöpft zählte ich den Countdown bis zu den Sommerferien.

 

Aber ab heute – so versicherte ich meinem Spiegelbild an diesem entscheidenden Morgen und zwang mich damit zurück in die Gegenwart –, ab heute würde alles vollkommen anders werden.

Dieser Tag würde neue Schüler mit sich bringen, denn die gab es schließlich in jedem beginnenden Schuljahr. Egal ob sie frisch hinzugezogen waren oder einfach die Schule gewechselt hatten, sie würden die Aufmerksamkeit der hungrigen Meute für einige Tage oder sogar Wochen auf sich lenken. Wenn es schlecht lief, würden wir vielleicht nur ein paar ältere Schüler bekommen, die eine Ehrenrunde drehen mussten, aber selbst das würde vermutlich funktionieren. So oder so: Ich war nicht mehr die Neue.

Zufrieden begab ich mich unter die Dusche.

Als ich die Knoten meiner Haare mithilfe einer Unmenge Shampoo und Pflegespülung entwirrt und die Locken über meiner Rundbürste glattgeföhnt hatte, entschied ich mich für eine schlichte graue Bluse und meine verwaschene Lieblingsjeans. Pfeifend und für meine Verhältnisse nahezu leichtfüßig lief ich die Treppe hinab, schnappte mir im Rausgehen einen Apfel und verließ das Haus.