16

»Bei Thors Wunden! Was machst du da? Ingunn! Hör auf damit, Weib!«

Magnus konnte nicht glauben, was er sah. Ingunn hielt Lotti am Arm fest und schwang die Peitsche. Sie war im Begriff, das Kind auszupeitschen. Er rief erneut ihren Namen, doch sie schien nicht zu hören. Sie keuchte schwer, ihre Brust hob und senkte sich. Magnus packte ihr Handgelenk und entwand ihr die Peitsche, bevor sie auf Lotti niedersausen konnte.

Ingunns Gesicht war zur Grimasse verzerrt, ihre Augen glühten schwarz vor Zorn. Ihre Bösartigkeit erschreckte ihn zutiefst. Er schleuderte die Peitsche von sich, packte seine Schwester an den Armen und rüttelte sie. »Bist du von Sinnen? Warum schlägst du ein Kind? Noch dazu mit einer Peitsche! Antworte mir!«

Ingunn blinzelte, er rüttelte sie wieder, doch bevor sie antworten konnte, hörte er Lottis gurgelnde Laute und wandte sich dem Kind zu. Die Kleine rannte los . . . jetzt erst sah er Zarabeth. Sie lag auf den Knien und hielt ihr zerfetztes Gewand über der Brust zusammen. Das Haar hing ihr wirr und schweißnaß ins Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war.

Er ließ Ingunn los. Lotti warf ihre Arme um Zarabeths Hals, und Zarabeth zog das Kind mit unendlich langsamen Bewegungen an sich.

Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Er trat langsam auf sie zu. Und ein wahnsinniger Schmerz durchfuhr ihn wie ein Dolchstoß. In diesem Moment sackte die Gepeinigte bewußtlos zu Boden, riß Lotti mit sich. Jetzt sah er ihren Rücken, der von dunkelroten Peitschenstriemen überzogen war. An manchen Stellen war die Haut aufgeplatzt, Blut trat aus. Haarsträhnen klebten in der zerschundenen Haut. Die Übelkeit drehte ihm beinahe den Magen um. Doch dann loderte wilder Zorn wie eine Feuersbrunst in ihm hoch.

Der herangetretenen Eldrid befahl er heiser: »Hol warmes Wasser, rasch! Und Seife und saubere Tücher.« Ohne ein weiteres Wort hob er Zarabeth auf seine Schulter, vorsichtig, um ihren zerschundenen Rücken nicht zu berühren.

Ingunn kreischte: »Überlaß sie den Sklaven! Sie sollen sie in die Sklavenhütte bringen. Sie ist ein anmaßendes Frauenzimmer, nichts als ein Stück Dreck. Du hast sie doch schon im Bett gehabt. Warum kümmerst du dich noch um sie? Du hast sie als Sklavin und deine Hure zu uns gebracht! In ein paar Stunden ist sie wieder auf den Beinen, und du kannst sie wieder besteigen. Sie taugt nichts, Magnus. Die Schlampe taugt zu gar nichts!«

Cyra zupfte ihn am Ärmel. »Die Frau hat deine Schwester beschimpft, sie hat sie angeschrien und ihr fürchterliche Schimpfnamen gegeben. Sie hat sich Ingunns Befehlen widersetzt . . .«

Magnus schüttelte Cyras Hand ab. Er wußte, wenn er sie anfaßte, würde er sie wahrscheinlich umbringen. Er trug Zarabeth in die dunkle Kammer und legte sie auf den Bauch. Behutsam befreite er sie von dem zerfetzten Gewand und löste die roten Haarsträhnen, die an den geschwollenen nässenden Striemen auf ihrem Rücken festklebten. Lotti stand leise wimmernd an der Tür, die kleine Faust in den Mund gesteckt, hatte Angst, näherzukommen.

»Komm Lotti, und setz dich neben sie. Wenn sie aufwacht ...« Sie verstand nicht, was er meinte. Er hob die Kleine hoch und setzte sie neben ihre Schwester aufs Bett.

Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und sagte langsam: »Bleib bei ihr, und sei lieb zu ihr, wenn sie aufwacht. Hast du verstanden?«

Lotti schluckte und nickte langsam. Ihr Gesicht war immer noch angstverzerrt. Magnus drehte Zarabeth behutsam zur Seite. Ein Peitschenhieb hatte knapp unter ihren Brüsten einen blutunterlaufenen Streifen hinterlassen. Er holte tief Luft und legte sie wieder auf den Bauch.

Eldrid betrat die Kammer. Hinter ihr trug eine Sklavin ein Binsenlicht, das sie an einen Haken an der Wand hängte.

Magnus wusch Zarabeths Rücken. Ohne seine Tante anzusehen, sagte er: »Berichte, was passiert ist.«

»Ich bin zu alt für diesen Unsinn, Neffe«, sagte Eldrid. »Ich unterrichte das kleine Mädchen, wie du es mir aufgetragen hast. Aber die Schwester, das ist mir zu viel, Magnus. Ingunn haßt sie und möchte sie loswerden — oder sie tot sehen. Was sollte ich tun? Das Kind versuchte, der Schwester zu helfen, und Ingunn ließ ihre Wut an ihr aus. Was sollte ich tun?«

Magnus wusch schweigend ihren wunden Rücken. »Hast du eine deiner Kräuterarzneien, um ihre Schmerzen zu lindern?«

Eldrid schüttelte den Kopf. »Wacholderbeerensaft würde ihr guttun. Aber der ist aufgebraucht. Erst im Herbst kann ich wieder welchen machen. Sie ist jung, sie wird es überstehen.«

Er haßte Eldrid in diesem Moment. Sie und seine Mutter Helgi konnten einander nicht ausstehen, deshalb war Eldrid vor fünf Jahren zu ihm gekommen. Sie hatte keinem Sohn das Leben geschenkt, der sich um ihr Wohlergehen sorgen konnte. Das Leben hatte sie bitter und hart gemacht. Nur Kinder vermochten ihr Herz zu erwärmen. Aber Lotti hatte sie nicht beschützt. Vielleicht hatte sie es versucht, aber sie war eine alte Frau, von Ingunn ebenso abhängig wie von ihm. Und Ingunn mußte sich wie ein Berserker aufgeführt haben. Behutsam tupfte er einen blutigen Peitschenstriemen an ihrer Hüfte ab. Dann fluchte er leise und anhaltend in sich hinein.

Lotti starrte ihn an.

»Zarabeth«, sagte Lotti und legte eine kleine Hand auf die Schulter ihrer Schwester.

Magnus sagte langsam: »Sie wird bald wieder gesund, Lotti. Ich versprech es dir.«

Kurze Zeit später kam Leben in Zarabeth. Wieso lag sie auf dem Bauch? Und im nächsten Augenblick spürte sie das Brennen auf ihrem Rücken. Dann fühlte sie seine Hand auf ihrem Arm, hörte seine Stimme an ihrem Gesicht. »Bleib ruhig liegen. Ich kann leider nichts gegen deine Schmerzen tun. Halt dich still und atme langsam und tief durch.«

Ohne die Augen zu öffnen, sagte sie: »Lotti. Geht es ihr gut? Ingunn wollte sie auspeitschen, und ich . . . ich konnte sie nicht davon abhalten. Ich konnte mich nicht bewegen, um sie aufzuhalten.«

»Ich habe Ingunn daran gehindert. Lotti geht es gut. Sie schläft hier neben dir.«

»Danke.«

»Du wirst keine Narben zurückbehalten.«

Sie öffnete die Augen. »Ich hätte deine Schwester getötet, aber ich kam nicht vom Fleck. Sie hob die Peitsche gegen Lotti, und sie lachte wie eine Irre. Und dann ...« Sie schauderte.

»Versuch zu schlafen.«

»Ich habe Hunger. Damit hat alles angefangen. Ich hatte Hunger und wollte eine Schale Haferbrei essen.«

»Ich bring dir zu essen.« Er erhob sich. Sie lag zerschunden auf dem Bauch, das Gesicht totenblaß und schmal, selbst ihr Haar schien seine Leuchtkraft eingebüßt zu haben.

Er trat an die Kochstelle, über der glattgeschliffene Holzbretter an der Wand befestigt waren, auf denen Holzschalen, Becher, Löffel und Messer lagen. Er war sich der bangen Stille im Raum bewußt. Seine Männer starrten ihn an, die Frauen ebenso. Nur die Kinder lärmten unbeirrt im Hintergrund. Egill forderte gerade laut schreiend einen anderen Jungen zum Zweikampf auf.

Ingunn stand hinter ihm und redete zischelnd auf ihn ein: »Glaub ihr nicht, Magnus. Sie lügt, ich weiß es. Sie hat sich mir widersetzt, hat die Arbeit verweigert. Was sollte ich tun? Sie denkt, nur weil sie deine Hure ist, kann sie die Hände in den Schoß legen und uns anderen bei der Arbeit zusehen. Glaube ihre Lügengeschichten nicht, Magnus. Du weißt selbst, daß sie eine Lügnerin und eine gemeine Mörderin ist.«

Er wandte sich langsam um, hielt eine Schale in der Hand. »Gib von dem Wildeintopf hinein, Ingunn.«

Ingunn fuhr zurück. »Für sie? Für das Dreckstück? Eher stoße ich ihr ein Messer in ihr rabenschwarzes Herz.«

»Tu, was ich dir sage.«

»Nein, verdammt, ich will nicht!«

»Dann bist du nicht länger willkommen in meinem Haus. Ich bin hier der Herr, und niemand widersetzt sich meinen Befehlen.«

Er haßte es, solche Drohungen auszusprechen, sah aber keinen anderen Weg. Ingunn nahm ihm die Schale aus der Hand und wandte sich steif ab. Er beobachtete sie nachdenklich. Er hatte nie zuvor solche Bösartigkeit, solch tödlichen Haß in ihr gesehen. Doch dann erinnerte er sich. O ja, er hatte sie einmal in einem Anfall von Eifersucht und Neid erlebt, als sie ihre Wut austobte. Damals hatte ein junges Mädchen sich geweigert, ihr einen Armreif zu geben, an dem Ingunn Gefallen gefunden hatte. Sie war eifersüchtig auf Zarabeth, und er, der Narr, hatte Zarabeth sämtliche Waffen weggenommen. Er hatte sie zur Sklavin gemacht. Er hatte sie Ingunns Willkür ausgesetzt.

Seine Schwester hielt ihm nun schweigend die volle Schale hin.

Er sagte betont langsam und deutlich, seinen Blick auf ihr Gesicht fixiert: »Wenn du sie noch einmal anfaßt, werde ich dich die Peitsche spüren lassen. Wenn du noch einmal Hand an Lotti legst, werde ich dich noch härter auspeitschen. Hast du mich verstanden?«

»Bei Thors Hammer, sie lügt! Ich habe ihr nichts angetan, was sie nicht verdient. Frag Cyra! Sie kann bezeugen, was die Schlampe getan hat, frag sie!«

»Hast du mich verstanden?!«

»Was kümmert sie dich? Hast du sie nicht schon beschlafen? Wie viele Männer hat sie vor dir gehabt? Sie hat damit geprahlt, wie viele Männer sie in York hatte, und daß sie dich mit einem Lächeln rumkriegen kann. Warum kümmerst du dich immer noch um sie?«

»Hast du mich verstanden?«

Da begriff sie, daß ein anderer vor ihr stand. Dieser Mann kümmerte sich nicht um die Wahrheit oder um ihre Gefühle, dieser Mann war offenbar gegen sie eingenommen, er haßte und beschimpfte sie, nur weil die Sklavin sie von ihrem Platz vertrieben hatte. Nein, er war nicht der Mann, der sie verteidigt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Er war ihr fremd geworden. Sie ärgerte sich über ihre Niederlage, und es erforderte all ihre Willenskraft, um die Beherrschung nicht zu verlieren. »Ich habe verstanden.«

»Gut. Vergiß meine Worte nicht, Ingunn, denn ich werde sie nicht vergessen.« Damit ließ er sie stehen. Er wußte genau, daß jeder im Raum die Geschwister beobachtete und sich seine Gedanken machte.

Er fütterte Zarabeth, bis sie zu schwach war, noch einen weiteren Bissen zu kauen. Als sie endlich einschlief, hob er Lotti hoch und trug sie in die Kammer der Kinder. Dort legte er sie hin und strich ihr das zarte, rotbraune Haar aus der Stirn.

»Schlaf gut«, sagte er, beugte sich über sie und küßte ihre Wange. »Ich passe auf deine Schwester auf, das verspreche ich dir.«

Lächelnd schloß Lotti die Augen. Magnus hob den Kopf und sah seinen Sohn, der am anderen Ende des Bettes kauerte und ein mißmutiges Gesicht machte. Magnus nahm ihn auf den Schoß, obwohl er kein kleines Kind mehr war.

Er redete leise mit ihm, um die anderen Kinder nicht zu wecken. »Gib Lotti nicht die Schuld, Egill. Sie ist ein kleines Mädchen, und sie liebt ihre Schwester. Würdest du mich nicht beschützen, wenn jemand mich bedroht? Und ich habe den Eindruck, sie mag dich sehr gern. Tu ihr nicht weh, und bedrohe sie nicht, wie deine Tante Ingunn es tut.«

Der Junge nickte. Magnus hatte keine Ahnung, ob seine Worte in das Herz seines Sohnes gedrungen waren. Er hoffte es.

Er ging zur schlafenden Zarabeth zurück, legte ein weiches, weißes Tuch auf ihren Rücken, streifte ihr behutsam die Kleider ab und legte sich neben sie. Es dauerte lange, ehe er einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen fütterte er sie, wusch ihr erneut den Rücken und sagte ihr, sie solle ruhig liegen bleiben. Zarabeth blieb stumm. Sie war steif gelegen, ihr Rücken schmerzte, die Muskeln waren verspannt, ihre Haut brannte.

Magnus wandte sich in der Tür um und studierte ihr bleiches Gesicht. »Mach dir um Lotti keine Sorgen. Eldrid paßt auf sie auf.«

»Danke«, sagte sie tonlos.

Sie schlief unruhig bis zum Mittag. Deutlich waren die Geräusche aus dem großen Raum zu hören. Sie hörte auch Ingunns Stimme und verkrampfte sich in hilflosem Zorn. Dann schlief sie wieder ein und wurde durch eine Stimme geweckt: »Wie ich sehe, bist du wach.«

Angst schnürte ihr das Herz zusammen. »Ja, jetzt bin ich wach.«

»Willst du den ganzen Tag auf der faulen Haut herumliegen?«

Sehr langsam stützte Zarabeth sich auf den Ellbogen. »Du hast mich verletzt, Ingunn. Mein Rücken schmerzt.«

»Pah! Ich hab dich kaum berührt, verlogenes Miststück! Du willst bloß Mitleid bei Magnus schinden. Aber er hat dich durchschaut. Auch wenn er dich beschlafen hat, ist er nicht dumm. Er kommt wieder zu Verstand. Du hast ihn schon einmal betrogen, ihn angelogen. Er hat dich durchschaut. Er ist fort. Und wäre er hier, würde er dich nicht beschützen.«

Zarabeths Blut geriet in Wallung, als ihre Wut aufstieg, Wut und Angst, daß Ingunn die Wahrheit gesagt haben könnte. »Ich habe nicht gelogen!«

»Lüge nur getrost weiter, mich kümmert es nicht. Doch deine Faulheit laß ich nicht zu. Steh auf! Es gibt viel zu tun. Und ich kann nicht alles alleine machen. Du nimmst nur und gibst nichts. Das ist nicht Wikingerart. Du taugst nicht einmal zur Sklavin.«

Zarabeth setzte sich mühsam auf und zog die Wolldecke bis zum Kinn, um ihre Nacktheit zu verbergen.

Ingunn sah sie lange und kalt an. Der Haß gegen diese Frau drohte sie beinahe zu ersticken.

»Ich sage dir die Wahrheit, Schlampe. Magnus weiß nicht, was er mit dir anfangen soll. Er will dich loswerden. Er hat dich gehabt, aber du hast ihm nicht die Lust gegeben, wie Cyra es tut. Und nun spielst du die Kranke, und er zögert, dich hinauszuwerfen. Er will dich verkaufen, sagte er mir vor wenigen Stunden, aber du jammerst und heulst nur herum. Ich könnte ihm sagen, daß du nur Theater spielst, möchte ihm das aber ersparen. Er hat genug durchgemacht. Da liegt ein wertloses Frauenzimmer in seinem Bett, von der er nichts bekommt, außer, was ihr magerer Körper ihm noch zu bieten hat. Sieh dich bloß an — du bist eine heruntergekommene Drecksschlampe!«

Die Worte trafen sie wie Schläge, und Zarabeth wollte den Kopf schütteln, um sie nicht hören zu müssen, sie wollte Ingunn anschreien, daß sie Lügen erzählte, daß Magnus sie nicht verkaufen wollte, daß . . .

»Ich steh gleich auf. Laß mich allein, ich möchte mich anziehen.«

»Und bist du nun gewillt zu arbeiten? Magnus läßt nicht zu, daß ich dich auspeitsche, bevor du wieder ganz gesund bist. Aber er ist gegangen, weil er dich nicht mehr sehen kann. Dein Betrug schmerzt ihn immer noch. Bist du bereit, das zu tun, was ich dir auftrage, ohne Magnus die Ohren voll zu jammern?«

»Ja, das bin ich.« Und sie war eine Närrin, weil sie Ingunn so leicht in ihr Spinnennetz ging, dachte sie bei sich. Ihr Rücken brannte, und ihr Kopf schmerzte, doch sie wollte keine nutzlose Faulenzerin sein. Langsam stand sie auf. Wenigstens hatte sie einen vollen Bauch. Mühsam hob sie den Deckel von Magnus Truhe. Dort lagen ihre Kleider. Er hatte ihr befohlen, sie dort einzuordnen. Vorsichtig schlüpfte sie in ein altes Kleid, aus dem sie herausgewachsen war. Dann schleppte sie sich in die Halle.

Magnus ruderte das Ein-Mann-Boot in nordöstliche Richtung den Viksfjord hinauf. Das Wasser war ruhig, die Luft kühl, die Sonne stand hoch am Himmel. Er hatte allerdings kein Auge für die Schönheiten der Natur. Er war besorgt und verärgert, denn wieder einmal hatte er das Gefühl, nicht Herr der Lage zu sein.

Als er das Gehöft seiner Eltern erreichte, winkte er den Wachen zu, hielt sich auf Distanz, bis sie ihn erkannt hatten. Dieser Hof war zweimal so groß wie Malek, hier lebten und arbeiteten an die hundert Menschen. Die Weizen- und Roggenfelder waren von Steinmauern umgeben.

Das Dorf war nicht von Holzpalisaden umzäunt, da die Hütten direkt ans Wasser grenzten. Zum Landesinneren bildete ein breiter Wall die Grenze.

Er betrat das riesige Langhaus, und vertraute Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Die Gerüche, die er seit Kindheit kannte, der Webstuhl seiner Mutter, der am selben Platz stand wie eh und je. Aus einer Gruppe schnatternder Frauen und Kinder löste sich seine Mutter, ging ihm lächelnd entgegen und schloß ihn so herzlich in die Arme, daß ihm die Rippen krachten, denn sie war stark wie ein Bär.

Ihre Finger berührten seine Wange. »Was ist passiert, Magnus? Ach, es ist wegen der Frau, stimmts? Was ist geschehen?«

Magnus lachte, es klang rauh und häßlich. »Ist mein Gesicht so offen, daß du alles darin lesen kannst?«

»Eine Mutter hat scharfe Augen. Komm und setz dich.« Sie rief nach Met.

Magnus sah die Schweißperlen auf ihrer breiten Stirn. Es war heiß und stickig im Haus. »Komm nach draußen, Mutter. Die frische Luft tut dir gut.«

Helgi nickte lächelnd.

Draußen nahm er ihren Arm und führte sie zum Wasser.

»Ist Vater auf der Jagd?«

»Ja. Die Männer haben viel zu tun, um Vorräte für den Winter anzulegen. Wie stehts mit deinen Wintervorbereitungen?«

»Ich war gestern mit meinen Männern auf der Jagd.« Er holte tief Luft. »Ingunn muß verheiratet werden. Sie kann nicht länger auf Malek bleiben.«

Helgi schwieg verblüfft, blickte ihn nur fragend an, und er berichtete, was vorgefallen war.

«... Zarabeth liegt nun in meinem Bett, ihr Rücken voller wunder Striemen von Ingunns Peitsche. In meinem Haus herrscht Krieg. Ingunn muß gehen. Sie hat sich verändert. Aber das ist dir vielleicht schon aufgefallen. Sie verliert schnell die Beherrschung; sie ist schroff und hart. Ihr müßt sie zu euch nehmen, bis Vater einen Ehemann für sie findet, da er Orms Antrag abgelehnt hat.«

Helgi sah ihren Sohn forschend an und nickte bedächtig. »Ja, ich habe es bemerkt. Aber sie ist deine Schwester. Und sie hat fünf Jahre lang deinen Haushalt gut versorgt. Warum bringst du Zarabeth nicht zu uns? Ich behalte sie als meine Sklavin. Ich kaufe sie dir ab, dann bist du die Verantwortung für sie los, und der Frieden in deinem Haus ist wieder hergestellt. Was hältst du davon?«

Er versteifte sich, und Helgi blickte lächelnd in die Ferne. Sie hatte nichts anderes erwartet. »Sehr wohl, Magnus. Du willst die Frau behalten. Du liebst sie. Nach allem, was sie getan hat, liebst du sie.«

Bedächtig entgegnete er mit gefurchter Stirn: »Ich weiß wirklich nicht, ob sie ihren Ehemann Olav vergiftet hat. Ich hätte geschworen, daß sie es nicht getan hat. Sie ist so sanft, gütig und liebevoll, daß man ihr diese Untat nicht zutraut.« Er hob die Schultern. »Aber Olavs Sohn und seine Frau ... sie haben geschworen, daß sie die Mörderin ist, und andere ebenfalls.«

»Möglicherweise wurden die Zeugen vom Sohn bezahlt. Hat er nicht den gesamten Besitz des Vaters übernommen, nachdem Zarabeth aus dem Weg geräumt war?«

»Ja, das hat er. Keith ist ein Schwächling, und seine Frau ist ein heimtückisches Weib. Aber es ist mir nicht mehr wichtig. Nicht einmal der Mann in Hedeby, den sie dazu verleiten wollte, ihr zur Flucht zu verhelfen, er ...«

»Was?«

Er berichtete ihr den Vorfall. Seine Mutter machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie mit einem völlig unbekannten Mann fliehen wollte. Du sagtest, der Mann war ein Feigling und rannte weg, als er erkannte, daß du ihr Herr bist?«

Magnus nickte.

»Warum sollte sie ihn zu sich locken? Hältst du Zarabeth für dumm? Hat sie nicht erkannt, daß er ein Feigling war?«

»Sie ist nicht dumm.«

»Gut. Mir scheint, der Mann hat ihr die Schuld zugeschoben, damit du ihm nicht den Schädel einschlägst.« Helgi lächelte ihren Sohn an. »Du wirst die Frau bei dir behalten. Ich spreche noch heute abend mit deinem Vater über Ingunn. Mir tut es leid, wegen Orm. Doch dein Vater mißtraut ihm. Er wird niemals seine Zustimmung geben, daß er Ingunn zur Frau nimmt.«

»Ich habe gehört, daß er von Banditen überfallen worden ist.«

»Er hat einen anderen Mann getötet, einen freigelassenen Sklaven, einen Mann von Ehre. Er hat dem Mann sein Silber geraubt. Daran ist nicht zu zweifeln. Wäre Orms Familie nicht so mächtig, würde man ihn zur Rechenschaft ziehen. Doch leider kommt er nicht vor Gericht.«

»Warum nicht? Warum trägt die Familie des Mannes die Sache nicht bei der nächsten Versammlung des Thing vor? Wenn genügend Beweise vorliegen, kann zumindest Danegeld für das Leben des Mannes verlangt werden.« Er lachte bitter auf. »Ich habe eine große Summe für Olavs Leben bezahlt. Beinahe so viel wie ich für Zarabeths Brautgeld bezahlt hätte.«

Seiner Mutter stockte der Atem, und er verfluchte seine lose Zunge. Doch so war es seit jeher. Er konnte kein Geheimnis vor seiner Mutter bewahren. Geschickt entlockte sie ihm alles.

»Du wußtest, daß ich die Absicht hatte, sie zu heiraten. Horkel hat dir davon erzählt. Aber sie hat meinen Antrag abgelehnt. Als ich zurückkehrte, um sie mitzunehmen, stellte ich fest, daß man sie töten wollte, weil sie Olav, ihren betagten Ehemann, ermordet hatte.«

»Ich möchte mit der Frau sprechen. Erlaubst du mir das, Magnus?«

Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Doch seine Mutter beschwichtigte ihn. »So kann das nicht weitergehen. Ingunn ist eifersüchtig auf sie und tut ihr eines Tages möglicherweise wirklich etwas an. Ich würde ihr nicht trauen.«

»Sie ist eine Sklavin! Ingunn hat keinen Grund, die Frau zu hassen.«

Helgi achtete nicht auf seinen Einwurf und wiederholte: »Ingunn tut ihr vielleicht wirklich etwas an. Ich würde ihr nicht trauen.«

»Ich habe Ingunn Strafe angedroht, wenn sie es wagt, noch einmal Hand an Zarabeth oder Lotti zu legen.«

Helgi lächelte über seine Naivität. »In dein Leben wird kein Frieden einkehren, wenn du nicht Ordnung schaffst. Ingunns Haß gegen diese Frau legt sich nicht. Ich rede wieder mit dir, wenn dein Vater eine Entscheidung getroffen hat. Sei vorsichtig, Magnus und versuche, gerecht zu sein.«

Er nickte und verabschiedete sich. Eine Stunde später war er wieder zu Hause. Er betrat das Langhaus und ging sofort in seine Kammer.

Der kleine Raum war leer. Er drehte sich um und brüllte: »Ingunn! Wo ist sie?«

Das eisige Lächeln seiner Schwester ließ ihn bis ins Mark erschauern.

Er hätte sie mit zu seiner Mutter nehmen sollen. »Wo ist sie, Ingunn?«

Achselzuckend antwortete sie: »Mit vier anderen Sklaven draußen im Moor beim Torfstechen. Du weißt, wieviel Brennmaterial wir im Winter brauchen. Rollo jammert, es sei nicht genug, weil er Gerätschaften für dich zu schmieden hat. Und du weißt, wie heiß der Ofen sein muß, um das Eisen zu schmelzen.«

Er starrte sie an. Torfstechen! Bei Odin, das war Männerarbeit, dreckig und schwer. Dazu brauchte man viel Kraft und Ausdauer. Und sie, eine schwache Frau, mußte diese Arbeit tun? In ihrem Zustand? Seine Mutter hatte recht. Ingunn würde ihren eifersüchtigen Haß gegen Zarabeth nie ablegen.

Wortlos drehte er sich um und verließ das Langhaus. Er verließ die Umzäunung und strebte mit langen Schritten dem Fichtenwald im Osten zu, am Rande des Moors.

Zarabeth fühlte sich sterbenselend. Am liebsten wäre sie umgefallen und hätte für immer die Augen zugemacht. Ihr Rücken brannte höllisch, weinen konnte sie nicht mehr. Ihre Muskeln waren verkrampft. Die Schmerzen wurden mit jedem Spatenstich schlimmer. Sie rammte die Schaufel in die schwarze Torferde, bis das Blatt auf harten Grund stieß, dann bückte sie sich, um das Torfstück mit den Händen auszugraben. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie das Torfstechen gelernt und ihren Rhythmus gefunden hatte. Nun war sie völlig erschöpft, ihre Glieder waren bleischwer. Sie konnte kaum die Arme heben, kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Wie töricht von ihr, sich von Ingunn verhöhnen zu lassen. Ihr

Stolz hatte sie verleitet, sich darauf einzulassen. Stolz! Wozu? Sie hatte Schmerzen und trug einen Kragen aus Eisen um den Hals, der sie daran mahnte, daß sie niemand irgend etwas bedeutete. Stolz!

Sie war ein Närrin, eine gottverdammte Närrin. Doch sie grub stoisch weiter, bückte sich und brach ein Torfstück aus dem Morast, hob es hoch und schichtete es auf den Stapel zu den bereits gestochenen Stücken. Sie machte eine kurze Pause, ihr Atem ging pfeifend, der Schmerz zog sich bis in die Knie. Und plötzlich wußte sie, daß er sie beobachtete.

Sie war völlig verdreckt, ihr Kleid triefend naß und schmutzverkrustet. Sie stank nach Torf und brackigem Moorwasser.

Ihr Zopf hatte sich gelöst. Schwer keuchend stand sie ganz still. War er gekommen, um sie zu verhöhnen? Um sie zur Arbeit anzutreiben? War er gekommen, um ihr zu sagen, daß er sie verkaufen würde? Daß sie nichts taugte? Er hatte sie dreimal genommen, und nun interessierte sie ihn nicht mehr. Wieso sollte er sie behalten?

Magnus nickte den anderen Sklaven zu, ausnahmslos Männer. Dann trat er auf sie zu und nahm ihr schmutziges Gesicht in beide Hände. Einen langen Augenblick blickte er ihr in die Augen.

Schließlich sagte er: »Wirf den Spaten weg.«

Ihre wunden Hände ließen den Stiel fallen.

»Bist du wirklich so dumm, hier zu arbeiten?«

Sie starrte ihn wortlos an.

Er runzelte die Stirn. »Hörst du mich nicht?«

»Du willst doch, daß ich hier arbeite. Du willst mich verkaufen, weil du meiner überdrüssig bist.«

»Wir sprechen später über deine seltsamen Hirngespinste. Jetzt wirst du gebadet, und dann werde ich dich an meinem Bett festbinden. Dort bleibst du, bis ich dir erlaube, aufzustehen.«

»Ich kann nicht«, sagte sie leise und entzog sich ihm. Sie versuchte, die Schultern zu straffen, doch der

Schmerz in ihrem Rücken ließ es nicht zu. Und sie stand vor ihm mit eingefallenen Schultern wie eine gebückte, alte Frau. »Ich bin nur eine Sklavin. Deine Sklavin. Du kannst nicht zulassen, daß ich träge und faul herumliege.«

»Du irrst. Ich kann mit dir machen, was mir gefällt. Ich rate dir, mir zu glauben und keinem anderen Menschen.« Er hob sie in seine Arme. Sie zuckte vor Schmerz zusammen. Er versuchte, sie so vorsichtig wie möglich auf seine Schulter zu legen. »Halt dich an mir fest.«

Ingunn sagte kein Wort, als Magnus das Langhaus betrat und saubere Tücher verlangte. Sie sagte kein Wort, als er später Zarabeth hereintrug, sauber gebadet und in die Tücher gehüllt und mit ihr in seiner Kammer verschwand. Wut und Ohnmacht drohten sie zu übermannen. Sie konnte gegen diese Frau nichts ausrichten. Es sei denn, sie brachte die Fremde um.

Sie musterte Cyra abschätzend. Ja, Cyra würde dem Weib mit Freuden ein Messer zwischen die Rippen stoßen. Was war zu tun?

Und dann wußte sie es. Der Gedanke ließ sie erschauern, und dennoch war sie wild entschlossen, ihr Vorhaben auszuführen. Sie würde nicht hier bleiben. Sie würde nicht zusehen, wie diese elende Schlampe ihren Platz einnahm. Ingunn lächelte böse.

Im Schatten der Mitternachtssonne
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