3

Olav beobachtete seine Stieftochter, während er an seinem Roggenfladen kaute, den sie mit gebratenen Rindfleischstreifen zum Nachtmahl bereitet hatte. Der Fladen war kross und würzig, und dennoch kaute er mißmutig darauf herum. Das Essen lag ihm schwer im Magen. Er ließ Zarabeth nicht aus den Augen. Jetzt fütterte sie ihre kleine Schwester, diese verfluchte Mißgeburt, die Olav in den Abflußgraben hätte werfen sollen, an jenem Tag, als er feststellte, wessen Lenden sie entsprungen, und was aus ihr geworden war. Das Kind war schwachsinnig, aber Zarabeth weigerte sich, das hinzunehmen. Er hätte sie damals töten sollen, das hatte er versäumt. Und nun konnte er sie nicht mehr töten. Zarabeth liebte die kleine Idiotin, und er wußte tief im Innern, wenn er dem Mädchen etwas zuleide tat, würde Zarabeths Zorn sich gegen ihn richten. Vielleicht würde sie ihn sogar töten. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken.

Viel wohler war ihm der Gedanke, sie in seinem Bett zu haben.

In ihr floß kein Tropfen von seinem Blut. Sie war nichts als irischer Dreck wie ihre Mutter; Dreck, aber keine Hure wie Mara. Er wollte sie in seinem Bett haben, und zwar bald. Und wenn er ihrer überdrüssig war, würde er sie vielleicht auf dem Sklavenmarkt in Dublin verkaufen, sie und die kleine Mißgeburt, verfluchte Pest. Vielleicht würde er nicht in York bleiben. Vielleicht würde er sie auch heiraten und mit ihr zurück nach Hedeby gehen. Dort war er geboren und vor zwanzig Jahren fortgegangen.

Er schob ein Stück Rindfleisch in den Mund, schmackhaft mit Honig bestrichen und in Mehl gewälzt und leckte sich die Finger. Dann sagte er mit tiefem Mißtrauen in der Stimme: »Du bist nicht wie sonst heute abend, Zarabeth. Ist etwas geschehen? Etwas, worüber du nicht sprechen möchtest?«

Sie wußte, Olav war grundlos eifersüchtig auf jeden jungen Mann, der mit ihr sprach, und schüttelte verneinend den Kopf, fühlte sich dennoch schuldbewußt.

»Du hast einen Mann getroffen, nicht wahr?«

Sie erkannte ihren Fehler und sagte so ruhig sie es vermochte: »Einen Wikinger-Kaufmann. Er kommt aus Norwegen, in der Nähe von Kaupang, sagt er. Er sprach mich am Brunnen am Coppergate Platz an und hat mich erschreckt. Dabei habe ich den Eimer fallen gelassen.«

Das klang aufrichtig, doch Olav gab sich nicht zufrieden. Ein Mann wäre dumm, den Worten einer Frau zu glauben. Er beäugte sie genau. »Wie heißt denn dieser Wikinger?«

»Das hat er mir nicht gesagt, er redete nur vom Wetter; und von dir natürlich. Er sprach mit Hochachtung von dir, er ist Händler und möchte mit dir ins Geschäft kommen.«

»Dann kommt er ja demnächst in meinen Laden«, sagte Olav, und diesmal schmeckte der Roggenfladen besser. Dennoch: sie war nicht wie sonst. Das beunruhigte ihn.

»Warum hat er dir seinen Namen nicht genannt?«

Zarabeth zuckte die Schultern. Sie haßte es, zu lügen, doch die Unwahrheit kam ihr ungebeten und ohne nachzudenken über die Lippen. Den Grund konnte sie sich nicht erklären. Sie dachte an Magnus, stellte ihn sich vor, groß, hochmütig und scharfäugig; sie sah sein Lächeln, seine Augen. Sie wandte sich zärtlich an Lotti, gab ihr ein Stück Fleisch in die kleinen Finger und sagte: »Iß noch ein kleines bißchen mehr, Liebes. So ist es brav. Und noch ein bißchen. Damit du groß und stark wirst.«

Olav beobachtete Zarabeth, die sich vorbeugte und dem Kind einen Kuß aufs Haar gab. Kleine Idiotin! Seine Augen wanderten zu Zarabeths Brüsten, und er spürte, wie seine Lenden sich spannten. Endlich hatte ihr Körper sich weiblich gerundet. Bis vor einem Jahr war sie mager und flach wie ein Brett. Mit einem Mal wuchs sie zur Frau heran, und alle jungen Männer schnüffelten hinter ihr her, alle wollten sie haben. Doch sie interessierte sich für keinen, dem Schicksal sei Dank, und Olav war nicht gezwungen, einen Brautpreis zu nennen, bei dessen Höhe den jungen Kerlen die Augen aus den Höhlen getreten wären vor Neid.

Und jeden Tag sah sie ihrer Mutter ähnlicher, der schönen, sanften, treulosen Mara. Er war nicht streng genug mit Mara gewesen, man hatte ja gesehen, wohin seine Gutmütigkeit führte. Doch Zarabeth, das Ebenbild ihrer Mutter, war nicht wie Mara, abgesehen von ihrer Verlogenheit, die war alle Frauen gemeinsam. Sie würde ihm gehorchen, und sie würde ihm treu sein, denn er würde sie fest an sich binden.

Sein eigener Sohn wollte sie haben, und das erheiterte Olav. Denn Keith war mit einer Frau verheiratet, die Olav ihm ausgesucht hatte. Ständig kam Keith vorbei, angeblich, um den Vater zu besuchen, doch Olav wußte es besser. Er wußte, daß der junge Mann hinter Zarabeth her war. Aber er würde sie nicht kriegen. Eher würde er seinen eigenen Sohn töten, bevor er zuließ, daß er sie berührte. Doch vermutlich würde Toki, die Frau seines Sohnes Keith, ihn ohnehin umbringen, wenn er fremdging. Ob Toki wußte, daß ihr Mann ein Auge auf seine Stiefschwester geworfen hatte?

Olav strich gedankenverloren seinen gepflegten, goldblonden Bart, der von weißen Strähnen durchzogen war. Er war kein alter Mann. Sein Geschlecht wurde mühelos steif, und sein Rücken war immer noch gerade. Er setzte einen kleinen Fettbauch an, doch nicht zu viel, um eine Frau abzustoßen. Haar und Bart waren kräftig und voll. Er war stolz auf seine Erscheinung und sah nichts Nachteiliges daran, sich mit Juwelen und Goldbroschen zu schmücken. Er wußte, daß man ihn Olav den Eitlen nannte, und das belustigte ihn. Warum durfte ein gutaussehender und wohlhabender Mann nicht eitel sein?

Olav stieß plötzlich den Stuhl zurück und stand auf. »Ich muß noch Felle sortieren, bevor es dunkel wird. Wenn dein Wikinger morgen zu mir kommt, werde ich ihm sagen, daß du mir von ihm erzählt hast.«

Er wartete einen Augenblick auf ihre Reaktion, doch sie nickte nur wortlos, ihr Gesicht gab keinerlei Aufschluß. Und das verstärkte seinen Argwohn, doch er sagte nichts. Schweigend begab er sich in den vorderen Teil des Hauses, wo sich sein Laden befand. Sie verstand es, ihr Gesicht ohne Ausdruck zu lassen, und das ärgerte ihn, weil sie ihre Gedanken verbarg — ob glückliche, traurige oder schuldbewußte. Er entzündete eine Bärenfettlampe, kauerte sich vor einen Stapel aus Biberfellen, Nerzen und Ottern, sortierte sie methodisch nach Größe und Beschaffenheit und setzte im Geist den Preis für jedes einzelne Fell fest. Darauf verstand er sich, und dafür dankte er seinem verstorbenen Vater, der ihm ein strenger Lehrmeister gewesen war.

Im hinteren Wohnbereich des Hauses verrichtete Zarabeth ihre Hausarbeit wie üblich, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Wikinger zurück. Sie redete mit Lotti, während sie die Holzschalen und Messer wusch. Später badete sie das Kind und legte es in den schmalen Bettkasten, der in der Kammer stand, die sie beide teilten, und deckte es liebevoll mit weichen Decken zu.

Als sie schließlich neben Lotti lag, eingewickelt in eine Wolldecke, dachte sie wieder an Magnus Haraldsson. Sie sollte ihn morgen nach der christlichen Messe treffen, hatte er gesagt. Nein, hatte er befohlen. Sie lächelte in die Dunkelheit. Er war nur ein Mann wie jeder andere, sagte sie sich, dennoch faszinierte er sie. Sie hörte, wie ihr Stiefvater die Kammer neben ihrer betrat; einen größeren Raum mit einem breiten Bettkasten, einer mit Federn gefüllten Matratze und einer großen Truhe, die seine Kleider enthielt. Die Zwischenwände im Haus waren dünn.

Sie hörte, wie er sich entkleidete, wußte, daß er alles ordentlich faltete, hörte, wie er sorgfältig seinen goldenen Armreif und die drei Ringe abstreifte. Dann rülpste er. Sie stellte sich vor, wie er sich den Bauch rieb und dann ins Bett kroch. Kurze Zeit später drang sein lautes Schnarchen zu ihr herüber.

Sie lag noch lange wach und fragte sich, wo Magnus jetzt war, was er wohl dachte, und was er machte.

Magnus stand an Bord seines Bootes Seewind zwischen zwei Rudern neben der Pinne, die Ellbogen auf den Handlauf des Dollbords gestützt, seine Körperbewegungen dem sanften Schwanken der Schiffsplanken angepaßt. Die Wellen schwappten leise gegen den Bootsrumpf. Das Wasser war ruhig im kleinen Flußhafen, der durch breite Erdwälle gut geschützt war. Er blickte über die sechs anderen Boote, die längsseits des Holzstegs auf dem Fluß Ouse angedockt lagen. Allesamt Handelsschiffe, keine Kriegsschiffe. Sie waren breiter, mit hochgezogenen Schiffswänden, um den Innenraum vor hohen Wellen zu schützen. Die Planken waren genagelt, nicht wie bei Kriegsschiffen überlappend verarbeitet. Das Boot hatte ein großes, viereckiges Segel aus grobem, weißen Sackleinen, mit roten Streifen doppelt vernäht, was ihm größere Festigkeit verlieh. Im Heck des Schiffes gab es zwei überdachte Bereiche unter schrägen Eichenplanken, um die kostbare Fracht vor Wind und Wetter zu schützen. Unter den Schiffsplanken befand sich ein weiterer flacher Frachtraum.

Magnus hatte das Langschiff vor drei Jahren bauen lassen. Und er plante, im nächsten Jahr ein zweites Boot von einem Schiffsbauer in Kaupang fertigen zu lassen, der nicht nur für seine Qualitätsarbeit, sondern auch für seine Schnelligkeit berühmt war. Er galt außerdem als etwas verrückt, trug einen langen, wallenden Bart und hatte dunkle, glühende Augen. Magnus mochte ihn ziemlich gem. Er sagte den Leuten auf unverschämte Art die Meinung, ohne sie direkt zu beleidigen, und niemand nahm ihm seine Frechheiten krumm.

Magnus rieb die Hände aneinander. Er blickte auf die Stadt York, der größten Handelsstadt und Haupthandelsplatz der Wikinger auf den Britischen Inseln. Zu seiner Linken lag der alte Teil der Stadt, bestehend aus strohbedeckten Lehmhütten. Das reichere Stadtviertel bestand aus dicht gedrängten Holzhäusern, darunter auch das Haus von Olav dem Eitlen, neben langgestreckten, flachen Lagerhäusern und einem guten Dutzend christlicher Steinkirchen. Es gab auch Gebäude aus schweren Eichenplanken, die auf den Fluß blickten. Am Zusammenfluß von Ouse und Fosse standen Häuser aus schweren Eichenplanken. Vor einigen Jahren hatten die Wikinger eine Brücke über den Ouse erbaut, die den rasch anwachsenden Verkehr um das alte römische Fort umleitete. York hatte sich im Lauf der Jahre verändert, seit die Wikinger an die Macht gekommen waren. Die Einwohnerzahl hatte sich auf dreißigtausend Seelen verdoppelt. Neben den Lagerhäusern der Wikinger standen christliche Kirchen; und die Wikinger begruben ihre Toten neben den Friedhöfen der Christen. Heutzutage sah man auch viele dunkelhaarige Wikinger, da Normannen sich angelsächsische Frauen nahmen und sich in großer Zahl vermehrten. Es herrschte beinahe überall Frieden, doch das konnte sich jederzeit ändern. Nach jedem Raubüberfall der Wikinger in König Alfreds Wessex konnte es einen Vergeltungsschlag geben, auch hier in York.

Für Magnus war das Leben nie langweilig, da es kaum vorhersehbar war. Magnus fand Gefallen an dieser Unvorhersehbarkeit. Nun dachte er an Zarabeth, an ihre weichen Oberarme, die sanfte Linie ihrer Wangen. Unvorhersehbarkeit konnte aber Gefahr für sie bedeuten, und dieser Gedanke behagte ihm keineswegs. Doch er war stark und flink und schlau. Er würde sie beschützen, er würde für ihre Sicherheit sorgen, woher die Bedrohung auch kam, von Menschen oder Elementen. Er zweifeite nicht daran, daß sie am Morgen zum vereinbarten Treffpunkt kommen würde. Er hatte gesehen, daß sie nach anfänglicher Verblüffung Gefallen an ihm fand. Die meisten Frauen fanden Gefallen an ihm. Er kannte dieses scheue, selige Lächeln und den weichen Gesichtausdruck. Sie würde kommen, und sie würde ihm zu Willen sein, dessen war er sicher.

Es war früh, und Zarabeth war vor Magnus am Brunnen. Sie fror, denn der Aprilmorgen war feucht und kühl. Wind kam auf und kündigte einen Sturm an. Sie war in einen braunen Wollumhang gehüllt, der von einer fein gehämmerten Bronzebrosche an der linken Schulter gehalten wurde. Ihr geflochtenes, hochgestecktes Haar war unter einer Kapuze bedeckt.

Als sie Magnus gewahrte, der sich in langen Schritten näherte, als gehöre ihm der Platz und sie dazu, wurden ihr die Knie weich. Bei ihrem Anblick trat Anerkennung in seine entschlossene Miene. Sie stellte zufrieden fest, daß ihm ihr Aussehen gefiel.

Zarabeth fühlte sich seltsam in der Schwebe, als er sich näherte, seine Schritte verlangsamend, als wolle er sich genügend Zeit lassen, um sie sich anzusehen.

Er trat sehr nahe an sie heran, faßte ihr unters Kinn und zwang sie, hochzusehen. Er küßte sie vor allen Leuten mitten auf den Mund.

Zarabeth war zuvor schon geküßt worden, flüchtige kleine Berührungen, doch nicht wie jetzt. Und dann sagte er dicht an ihrem Mund, sein Atem duftete warm und süß nach Honigmet: »Öffne deinen Mund für mich. Ich möchte dich kosten.«

Sie gehorchte, ohne zu zögern. Er schloß sie in die Arme und hob sie hoch, seine Hände faßten sie fest um die Mitte. Und er hörte nicht auf, sie zu küssen. Seine Zunge drang tief fordernd ein, dann folgten kleine, nagende Bisse und zärtliches Lecken, und sie ging darauf ein. Sie konnte gar nicht anders, und als sie antwortete, ließ er von ihr ab und hob den Kopf. Er lächelte auf sie herab, dieses triumphierende Lächeln, das sie zum Lachen brachte.

»Siehst du, was für ein gutes Gefühl ich dir gebe?«

»Das war nur ein Kuß, mehr nicht. Ich könnte auf den Kuß eines jeden Mannes so ansprechen.«

Er küßte sie wieder und danach noch einige Male, jeder Kuß fordernder als der vorangegangene. Er hörte nicht auf, bis ihre Lippen und ihre Zunge ihm antworteten. Als er sie diesmal losließ, strahlte sein Gesicht vor Freude, und sie wünschte, er würde sie noch einmal küssen. Sie spürte seine starken Hände, die ihren Rücken hinauf und hinunter wanderten; warme, große Hände, die ihr Freude bereiten, Hände, die sie beschützen würden.

»Guten Morgen, Zarabeth«, sagte er endlich. »Du hast auf mich gewartet. Das gefällt mir. Du schmeckst süß und dein Mund ist weich. In Zukunft wirst du mir deinen Mund öffnen, ohne daß ich dich dazu auffordern muß.«

Sie nickte, die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.

Er beugte sich über sie und küßte sie zart auf die Nasenspitze. Er lächelte. Jetzt war er sich ihrer vollkommen sicher. »Hast du mit deinem Stiefvater gesprochen?«

Die närrische Berauschtheit wich, und sie stand wieder am Brunnen mit einem Mann, der ihr bis gestern völlig fremd war. Sie schüttelte den Kopf. »Er fragte, ob etwas mit mir nicht in Ordnung sei«, antwortete sie und blickte die Hauptstraße von York entlang.

»Warum?«

»Er fand mich verändert. Ich war vielleicht etwas zerstreut.«

»Kein Wunder«, sagte er, und seine Überheblichkeit belustigte sie. »Warum hast du nicht von mir gesprochen?«

»Das habe ich getan. Aber nicht, wie du es wolltest. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob es dir ernst ist. Mit mir meine ich. Du konntest deine Meinung geändert haben.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich nicht lüge. Das gefällt mir nicht, Zarabeth. Ich möchte dich heiraten, und dabei bleibt es. Es kann doch nicht schwer sein, ihm zu sagen, was du wünschst, und was geschehen wird. Ich gehe nun in seinen Laden. Ich bin hier, um Geschäfte zu machen, und er ist ebenso ehrlich wie die meisten Kaufleute am Ort. Ich werde mit ihm über beides verhandeln, über meine Pelze und über dich.«

Sie packte seinen Ärmel, Panik erfüllte sie. »Warte, Magnus, bitte. Du mußt etwas über meinen Stiefvater wissen. Er ist auf jeden Mann eifersüchtig, der mir Beachtung schenkt. Ich weiß nicht warum, aber es macht mir Angst.« Zarabeth rang die Hände, und ihn rührte diese ungemein weibliche Geste.

Er strich ihr sanft über die Wange. »Mach dir keine Sorgen, Kleines, ich werde mit Olav dem Eitlen sprechen.«

»Ich bin keineswegs klein.«

»Für mich bist du klein.« Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten. »Ich will dich nackt, Zarabeth, und ich will auf dir liegen. Ich will deine Brüste küssen und mich zwischen deine Schenkel legen. Es macht mich ungeduldig, auf dich zu warten.«

Ihr stockte der Atem. Sie glaubte, ihn wenigstens ein bißchen verstanden zu haben; dann erschreckte er sie mit solchen Worten, trieb ihr die Röte ins Gesicht mit seiner schamlosen Rede.

Sie wandte den Kopf, blickte auf die schmutzigen Rinnsale unter ihren Stiefeln. Überall lagen Kothaufen und Abfälle, menschliche und tierische Fäkalien. Die Luft war schwer vom Gestank der Menschen, zu vieler Menschen. Plötzlich fragte sie: »Das Tal, in dem du lebst, Magnus, ist es dort sauber?«

»Die Luft ist so rein, daß du sie ganz tief in dich einsaugen möchtest. Jedes Jahr kommen mehr Menschen in das Tal, weil das Land fruchtbar ist, und weil viele Menschen für mich arbeiten wollen. Aber es ist immer noch genügend Platz für alle da, und unsere endlosen Wiesen und Felder tragen reiche Ernten. Bei uns gibt es keinen Dreck wie in der Stadt York.«

Sie schwieg.

»Eines Tages wirst du mich nach Kiew begleiten. Dort ist die Luft so scharf und rein und kalt, daß es weh tut, wenn du sie einatmest. Dann kommt Regen und Schnee, und man glaubt, Eis und Schnee hören nie wieder auf. Wenn man zu spät im Herbst nach Kiew segelt, kann es passieren, daß man bis zum nächsten Frühjahr dort bleiben muß. Der Fluß friert zu, und man ist die nächsten sechs Monate eingeschlossen.«

Sie sah ihn an, und in ihren Augen war Hunger. Und er fuhr fort, schwärmte vom Zauber der Städte und Landschaften. »Und die Steppen, Zarabeth, nichts als trockenes, hartes Gras, soweit das Auge reicht, und dann nur karstiges Land, wo nichts wächst, nur endloses, wildes Ödland. In der Steppe können nur wenige Menschen überleben, und sie sind wild und abweisend und kennen keine Gastfreundschaft. Aber um dort zu überleben, muß man so sein.«

»Du würdest mir wirklich diese Orte zeigen?«

Er nickte. »Ja. Ich nehme dich mit auf meine Handelsreisen. Aber wenn wir nach Miklagard kommen, muß ich gut auf dich aufpassen. Ich werde dein Haar und dein Gesicht mit einem Schleier bedecken, weil die Männer dich rauben werden wollen wegen deiner roten Haare und grünen Augen. So etwas ist dort unbekannt. Eine solche Frau wollen alle Männer besitzen.«

»Ich erinnere mich an Irland, an das satte Grün der Bäume und Wiesen. Es regnete dort viel mehr als hier, und die Farben waren klarer, üppiger. Aber es herrschte ständig Krieg, die Wikinger überfielen die Iren und dann wieder kämpften Iren gegen die Wikinger, und es gab viel Leid und Blutvergießen, und es hörte nie auf. Mein Vater starb bei einem solchen Raubüberfall.«

Sie blickte über den Platz. »Hier ist es friedlich, hier bin ich zur Frau geworden. Es gibt hier viel Interessantes, versteh mich nicht falsch, und ich habe viele Freunde, aber . . .«

Sie unterbrach, suchte nach Worten, die sie nicht fand, um ihre Gefühle auszudrücken. Sie zuckte die Achseln. »Ich werde närrisch.«

»Nein, nicht närrisch, in dir ist nur die Sehnsucht der Wikinger nach fremden Ländern, die Sehnsucht, die Welt zu entdecken. Alles, was ich von dir höre, gefällt mir. Sobald wir verheiratet sind, wird das Leben beginnen, das dir gefällt.«

»Aus deinem Mund klingt alles so einfach, so mühelos. Für mich war das Leben nie mühelos.«

»Das Leben ist mühelos. Du mußt mir nur vertrauen und an mich glauben. Begib dich in meine Hände.«

»Da ist noch etwas, Magnus. Meine kleine Schwester, Lotti. Sie steht unter meiner Obhut, und ich möchte sie bei mir behalten.«

Es trat eine ziemlich lange Pause ein. »Was ist mit ihrem Vater? Will Olav sie nicht behalten?«

»Nein. Er verabscheut sie.«

»Wenn das so ist, reise ich mit zwei Frauen in die Heimat zurück. Und jetzt werde ich mit Olav sprechen.«

Sie forschte tief in ihrem Innern, war zufrieden und sagte: »Bist du sicher, daß du mich heiraten möchtest?«

»Zweifle nie an mir, Zarabeth.« Er küßte sie erneut und war verschwunden.

Im Schatten der Mitternachtssonne
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